Abos!

WOHNLICHKEIT HAT NICHTS MIT ?KITSCH ZU TUN.

Ihren ersten Job trat Marisa Feuerstein im Büro ihres Vaters in Scuol an. Als diplomierte ETH-Architektin kehrte sie von Zürich zurück in die Berge mit der festen Absicht, ihren Heimatort bald wieder zu verlassen. Das war 1993. Doch sie blieb. Erkundigungen bei der Architektin, die ?ihr Bleiben keinen Augenblick bereut hat.


Text: Marco Guetg     

Bilder: Christian Ammann, Ralph Feiner

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Die Fahrt zu Marisa Feuersteins Schaffensort an der Bagnera 165 in Scuol erfolgt vorerst einmal virtuell. Ihre Homepage ist schwarz grundiert. Am oberen Rand führt eine kleine Fotogalerie in ihre Welt. Projekte. Wettbewerbe. Immobilien...Dort stösst der virtuelle Spurensucher auch auf ein paar Lebens- und Berufsdaten. Unter anderem erfährt er: Dass Marisa Feuerstein im Jahre 1967 in Scuol geboren wurde und dass sie Mutter der elfjährigen Bigna ist; er erfährt, dass Marisa Feuerstein an der ETH in Zürich Architektur studiert hat, 1990 für ein Praktikumsjahr nach Toronto reiste und 1992 ein Austauschsemester an der Harvard University in Boston USA einschob. 1993 machte sie das Diplom an der ETH Zürich. In diesem Jahr erfolgte auch der Eintritt ins väterliche Architekturbüro in Scuol, das sie 1999 übernahm und selbständig weiterführte – als Zeichen der Eigenständigkeit mit neuem Namen: Architectura Feuerstein.

Das sind die biographischen Eckpunkte. Dahinter verbergen sich Geschichten. Doch welche? Mit dieser Frage und mit Fotos und Texten in der Tasche reisen wir an einem frühlingshaft milden Märztag nach Scuol, erreichen um 10.15 Uhr den Bahnhof, wo uns Marisa Feuerstein abholt und an die Bagnera 165 chauffiert. Hier, unter dem Dach ihres Ateliers und an einem grossen Tisch, beginnen unsere Erkundigungen. Ganz unprätentiös lässt Marisa Feuerstein uns teilhaben an ihrem Werden und Schaffen und ornamentiert die auf die Homepage gesetzten biographischen Splitter mit Geschichten – zum Beispiel: Wie es zu ihren zwei Abstechern in die weite Welt kam, zum Praktikum in Toronto und einem Semester an der Harvard University in Boston.


Einst Stall, jetzt ein Wohnraum in aller Stille: das «Albergo» in S-charl.Der Küchen- und Wohnraum ist offen gestaltet. Der Formwillen der Architektin zeigt sich auch in der Möblierung.

Zufall wie Glück spielten mit. Nach der Matura reiste Marisa Feuerstein nach Kanada. In Toronto lernte sie den Architekten John Clark kennen, der der angehenden Architekturstudentin einen Job in Aussicht stellte. Darauf kam sie zwei Jahre später zurück. Sie fuhr nach Toronto, kam, um Neues zu sehen, tastete sich auf fremdem Boden in ein noch fremdes Gebiet. Bald aber sah sie, was geschieht, wenn die serbelnde Wirtschaft einen Betrieb aus den Angeln hebt. Als Marisa Feuerstein anfing, arbeiteten dreissig Leute bei Clark. Dann kam die Krise. Ein halbes Jahr später wurde das Büro geschlossen. «Kolleginnen und Kollegen standen über Nacht ohne soziale Absicherung auf der Strasse, während ich immerhin noch das Rückflugticket in der Tasche hatte...» Marisa Feuersteins Praktikum in Toronto wurde zu einem sozial prägenden Erlebnis, das bis heute Wirkung zeigt.  

Zum intellektuell nachhallenden Erlebnis dagegen wurde das Austauschsemester an der renommierten Harvard University in Boston. Mehr aus Jux denn aus Ehrgeiz meldete sich Marisa Feuerstein 1992 an – und erhielt einen der raren Studienplätze! Ihr ETH-Mentor Mario Campi hatte sich erfolgreich für seine Studentin eingesetzt. Nach der Euphorie folgte die Ernüchterung. In Harvard wurde Marisa Feuerstein unvermittelt in die amerikanische Akademiker-Wirklichkeit geworfen. «Es war die schwierigste und verrückteste Zeit meines beruflichen Lebens», erinnert sie sich, «ich fühlte mich sprachlich wie intellektuell überfordert, mir fehlte schlicht das Vokabular für den akademischen Diskurs.» Erhellung brachte erst die Schlussbesprechung mit dem Professor. «Wir unterhielten uns dreiviertel Stunden lang über mein Scheitern. Als Note erhielt ich schliesslich eine Fünfeinhalb.» Was vom Bostoner Schreckenssemester hängen blieb? «Die Erkenntnis, dass der Prozess so entscheidend sein kann wie das Resultat.» Und: «Das konzeptionelle Lernen. Noch heute prägt es mein Schaffen.»

Scuol – Zürich – Toronto – Boston...Marisa Feuerstein hatte ein wenig den Duft der weiten Welt geschnuppert. Trotzdem entschied sie sich für die Bergluft. 1993 kehrte sie als frisch diplomierte Architektin nach Scuol zurück. Warum? Wie oft ist ihr diese eine Frage nicht schon gestellt worden! «Die Antwort darauf ist ganz banal», sagt Marisa Feuerstein. «Die Wirtschafskrise hatte inzwischen auch die Schweiz erreicht. Studienabgänger fanden schlicht keine Jobs. Mein Vater aber hatte Arbeit, also ging ich zu ihm – aus reiner Bequemlichkeit.» Mit dem Eintritt ins väterliche Geschäft rückte sie auch wieder ein in die Aura der Familien­dynastie Feuerstein. Denn sowohl der Urgrossvater wie der Grossvater waren berühmte Landschafts- und Naturfotografen, deren Nachlass – es existieren rund 10 000 belichtete Glasplatten! – seit kurzem von einer Stiftung verwaltet und wissenschaftlich erfasst wird. Marisa Feuersteins Vater wiederum war ein in der Region geschätzter Architekt und Restaurator. Und so wurde die ETH-Absolventin quasi über Nacht in den Baualltag geworfen. Statt Theorie war Praxis angesagt: Sie lernte zeichnen, lernte den Umgang mit Handwerkern und musste sich auf Baustellen behaupten.


Ein umgebautes Wohnhaus aus den 1970er-Jahren. Es steht in Ftan. Es muss nicht immer ein Einfamilienhaus sein: Wohn- und Essraum in einem Mehrfamilienhaus in Sent.Dieser Aufenthaltsraum in einem Wohnhaus in Sent wurde vollständig in den ehemaligen Heustall hineingebaut.

Rückblickend ist für Marisa Feuerstein klar: Als sie 1993 in Scuol ankam, wusste sie, dass sie bald wieder aufbrechen wird, zurück nach Zürich, wo sie ihr soziales Umfeld hatte oder in irgendeine andere Stadt. Nur so war es für sie überhaupt möglich, wieder in die Heimat zurückzukehren. Doch sie blieb. Mitschuld an diesem Wurzelschlag mit Langzeitwirkung trägt auch ihr Vater. «Das hat er ganz geschickt gemacht», sagt Marisa Feuerstein. Zum einen liess er die Tochter trotz unterschiedlicher Vorstellungen gewähren, zum anderen übertrug er ihr die interessanten Aufträge. Sie konnte tun, was an einem anderen Ort kaum möglich gewesen wäre. «Nein», sagt Marisa Feuerstein am Tisch unter dem Dach ihres Ateliers an der Bagnera 165, «ich bereue diesen Entscheid keinen Augenblick!» Man glaubt ihr aufs Wort.

Dass ihr Entscheid, damals im Krisenjahr 1993, richtig war, hat auch mit ihrem Selbstverständnis wie ihrer Selbsteinschätzung als Architektin zu tun. «Ich hatte bereits an der ETH Mühe mit den ideologischen Positionierungen unter den Architekten. Ich schlug mich weder auf die Seite der Analogen noch der Dekonstruktivisten.» Auch habe sie sich nie als Künstlerin verstanden, «sondern eher als eine bodenständige Macherin», die jeweils an einem Ort und mit Rücksicht auf diesen Ort etwas kreiert. Nichts ist ihr fremder, als das eigene Werk über alles Vorhandene zu stellen und zu glauben, mit jedem Bau gleich ein Monument zu schaffen.

Diese selbstherrliche Attitüde stünde in krassem Widerspruch zum ihrem Verständnis von der Rolle des Architekten. Marisa Feuerstein ist vielmehr überzeugt, dass ein Architekt «neben dem ästhetischen Gestaltungswillen auch eine gesellschaftliche und kulturelle Verantwortung für einen Ort und eine Region haben muss.»

Diese Verantwortung nimmt Marisa Feuerstein primär in Scuol und Umgebung wahr. Diese Region kennt sie. Die Geschichte. Die Kultur. Die Menschen. Die Sprache. Klickt man auf ihrer Homepage auf die Rubrik «Projekte», sieht man, womit sie in ihrer engeren Heimat vorwiegend Zeichen setzt. Es sind häufig Umbauten und somit Objekte im Schnittpunkt von Neu und Alt. Dabei sind immer Interventionen nötig. Leiten lässt sie sich dabei von einem Grundsatz, der wiederum tief im Verständnis der regionalen Baukultur wurzelt: «Ich versuche jeweils, die Struktur des Alten zu erfassen und baue sie dort, wo sie einst verbockt worden ist, wieder zurück.» Wo es nötig ist, wird Neues zum Alten gestellt. Nur: «Das Neue soll sichtbar sein und darf keinen Bruch zum Bestehenden markieren.» Der gleiche sensible Blick auf das Gewachsene gelte auch im Umgang mit nicht genutzten Ställen in den Dörfern. Dazu sagt die Pragmatikerin: «Wir sind keine Agrargesellschaft mehr.» Das hat städtebauliche Auswirkungen. Und die Architektin folgert: «Deshalb darf man Ställe, die weder das Ortsbild prägen noch strukturell eine Bedeutung haben, auch abreissen oder umbauen.»

Marisa Feuerstein hat hier und dort im Unterengadin ästhetische Marksteine gesetzt – in Sent, Ftan, Tarasp oder exemplarisch in Scuol, wo sie im Dorfkern einen alten Stall aus dem 17. Jahrhundert so zum Wohnhaus umgebaut hat, dass sich darin leicht und mit Licht und komfortabel wohnen lässt, ohne das städtebauliche Bild der Scuoler Kernzone zu zerstören. Oder das «Albergo», Marisa Feuersteins Herzblut-Objekt aus Familienbesitz im Val S-charl. Den an einen uralten Wohntrakt gebauten Stall hat sie in ein dreistöckiges Ferienhaus verwandelt. Grosse Fensterfronten lassen die Landschaft erleben. Im Innern sind die Räume mit Arvenholz ausgestattet. Arvenholz? Ja. Feuersteins schnörkellos-schlichter Entwurf, ihre klare Formensprache der Räume wie Möbel verhindern jeglichen Hauch von Rustikalität. Das «Albergo», dieses Schmuckstück im Seitental, beweist zwei Sachen: Wie in einem ruralen Ambiente Neues sich in Bestehendem einbetten kann und dass Wohnlichkeit nichts mit Kitsch zu tun hat.

Wir sitzen am Tisch unter dem Dach. Marisa Feuerstein hat eine Fotodokumentation aus dem Regal geholt. Ein solches Schlussbouquet ist jeweils ihr Ziel: Einen Bau, den sie von an Anfang begleitet hat, fotografisch festzuhalten und die Kopien zu bündeln. Wir blättern, blicken und fragen: Wann, Frau Feuerstein, ist ein Haus schön? Darauf hat Marisa Feuerstein eine theoretische Antwort. Sie lautet: «Ein Haus ist dann schön, wenn Geschichte und Form und Nutzen eine Symbiose eingehen,» sagts, und hat dann gleich eine weitere und ganz simple Antwort parat. Diese lautet: «Ein Haus ist dann schön, wenn die Gäste sich an den Tisch setzen und nicht mehr fortgehen wollen.»


Marisa Feuerstein