Rückblickend ist für Marisa Feuerstein klar: Als sie 1993 in Scuol ankam, wusste sie, dass sie bald wieder aufbrechen wird, zurück nach Zürich, wo sie ihr soziales Umfeld hatte oder in irgendeine andere Stadt. Nur so war es für sie überhaupt möglich, wieder in die Heimat zurückzukehren. Doch sie blieb. Mitschuld an diesem Wurzelschlag mit Langzeitwirkung trägt auch ihr Vater. «Das hat er ganz geschickt gemacht», sagt Marisa Feuerstein. Zum einen liess er die Tochter trotz unterschiedlicher Vorstellungen gewähren, zum anderen übertrug er ihr die interessanten Aufträge. Sie konnte tun, was an einem anderen Ort kaum möglich gewesen wäre. «Nein», sagt Marisa Feuerstein am Tisch unter dem Dach ihres Ateliers an der Bagnera 165, «ich bereue diesen Entscheid keinen Augenblick!» Man glaubt ihr aufs Wort.
Dass ihr Entscheid, damals im Krisenjahr 1993, richtig war, hat auch mit ihrem Selbstverständnis wie ihrer Selbsteinschätzung als Architektin zu tun. «Ich hatte bereits an der ETH Mühe mit den ideologischen Positionierungen unter den Architekten. Ich schlug mich weder auf die Seite der Analogen noch der Dekonstruktivisten.» Auch habe sie sich nie als Künstlerin verstanden, «sondern eher als eine bodenständige Macherin», die jeweils an einem Ort und mit Rücksicht auf diesen Ort etwas kreiert. Nichts ist ihr fremder, als das eigene Werk über alles Vorhandene zu stellen und zu glauben, mit jedem Bau gleich ein Monument zu schaffen.
Diese selbstherrliche Attitüde stünde in krassem Widerspruch zum ihrem Verständnis von der Rolle des Architekten. Marisa Feuerstein ist vielmehr überzeugt, dass ein Architekt «neben dem ästhetischen Gestaltungswillen auch eine gesellschaftliche und kulturelle Verantwortung für einen Ort und eine Region haben muss.»
Diese Verantwortung nimmt Marisa Feuerstein primär in Scuol und Umgebung wahr. Diese Region kennt sie. Die Geschichte. Die Kultur. Die Menschen. Die Sprache. Klickt man auf ihrer Homepage auf die Rubrik «Projekte», sieht man, womit sie in ihrer engeren Heimat vorwiegend Zeichen setzt. Es sind häufig Umbauten und somit Objekte im Schnittpunkt von Neu und Alt. Dabei sind immer Interventionen nötig. Leiten lässt sie sich dabei von einem Grundsatz, der wiederum tief im Verständnis der regionalen Baukultur wurzelt: «Ich versuche jeweils, die Struktur des Alten zu erfassen und baue sie dort, wo sie einst verbockt worden ist, wieder zurück.» Wo es nötig ist, wird Neues zum Alten gestellt. Nur: «Das Neue soll sichtbar sein und darf keinen Bruch zum Bestehenden markieren.» Der gleiche sensible Blick auf das Gewachsene gelte auch im Umgang mit nicht genutzten Ställen in den Dörfern. Dazu sagt die Pragmatikerin: «Wir sind keine Agrargesellschaft mehr.» Das hat städtebauliche Auswirkungen. Und die Architektin folgert: «Deshalb darf man Ställe, die weder das Ortsbild prägen noch strukturell eine Bedeutung haben, auch abreissen oder umbauen.»
Marisa Feuerstein hat hier und dort im Unterengadin ästhetische Marksteine gesetzt – in Sent, Ftan, Tarasp oder exemplarisch in Scuol, wo sie im Dorfkern einen alten Stall aus dem 17. Jahrhundert so zum Wohnhaus umgebaut hat, dass sich darin leicht und mit Licht und komfortabel wohnen lässt, ohne das städtebauliche Bild der Scuoler Kernzone zu zerstören. Oder das «Albergo», Marisa Feuersteins Herzblut-Objekt aus Familienbesitz im Val S-charl. Den an einen uralten Wohntrakt gebauten Stall hat sie in ein dreistöckiges Ferienhaus verwandelt. Grosse Fensterfronten lassen die Landschaft erleben. Im Innern sind die Räume mit Arvenholz ausgestattet. Arvenholz? Ja. Feuersteins schnörkellos-schlichter Entwurf, ihre klare Formensprache der Räume wie Möbel verhindern jeglichen Hauch von Rustikalität. Das «Albergo», dieses Schmuckstück im Seitental, beweist zwei Sachen: Wie in einem ruralen Ambiente Neues sich in Bestehendem einbetten kann und dass Wohnlichkeit nichts mit Kitsch zu tun hat.
Wir sitzen am Tisch unter dem Dach. Marisa Feuerstein hat eine Fotodokumentation aus dem Regal geholt. Ein solches Schlussbouquet ist jeweils ihr Ziel: Einen Bau, den sie von an Anfang begleitet hat, fotografisch festzuhalten und die Kopien zu bündeln. Wir blättern, blicken und fragen: Wann, Frau Feuerstein, ist ein Haus schön? Darauf hat Marisa Feuerstein eine theoretische Antwort. Sie lautet: «Ein Haus ist dann schön, wenn Geschichte und Form und Nutzen eine Symbiose eingehen,» sagts, und hat dann gleich eine weitere und ganz simple Antwort parat. Diese lautet: «Ein Haus ist dann schön, wenn die Gäste sich an den Tisch setzen und nicht mehr fortgehen wollen.»