Treffpunkt, Hauptbahnhof Zürich, 7 Uhr 30. Aus dem Pulk der Pendler löst sich Gion A. Caminada. Wir haben den Vriner Architekten und Dozenten an der ETH Zürich zum Gespräch gebeten, um uns kundig zu machen über den Verein Handwerk Bildung und den damit verbundenen Lehrgang «Material und Form im Handwerk». Denn das Ziel ist hoch gesteckt. Mit dem Ende 2015 gegründeten Verein wollen Caminada und ein paar Mitstreiter dem Handwerk in Graubünden zu neuer Blüte verhelfen. Bei unserem Frage- und Antwortreigen am Beizentisch wird schnell klar: Ein Gespräch mit dem preisgekrönten Architekten über das Handwerk führt bald über das rein Handwerkliche hinaus, führt vom Kleinen ins Grosse, führt vom Ort in die Region, weil das Ganze Ausdruck ist einer Vision, die letztlich den Lebensnerv einer Bergregion tangiert.
Gion A. Caminada, klären wir zu Beginn den Begriff: Was verstehen Sie unter Handwerk?
Handwerk ist die geduldige Art, etwas Wertvolles zu machen.
Darunter kann ziemlich alles fallen.
Das soll auch so sein. Zum Handwerk zählt mehr, als was landläufig darunter verstanden wird, mehr als nur die Arbeit der Schreiner und Maurer.
Gehen Sie so weit wie der amerikanische Soziologe Richard Sennett in seinem grossen Essay über das Handwerk, der sogar Laboranten und Dirigenten dazu zählt...
...noch etwas weiter, wenn Sie wollen: Der Philosoph Peter Bieri hat ein Buch über das «Handwerk der Freiheit» geschrieben, und vom Architekturtheoretiker Vittorio Magnago Lampugnani stammt das Buch «Stadtbau als Handwerk»...
...Sennett, Bieri, Lampugnani: Läuft man bei solchen Referenzen nicht Gefahr, das Handwerk zu intellektualisieren?
Diese Gefahr besteht. Doch wir möchten mit diesen Referenzen an Denker und Bücher dem gängigen Bild des Büezers auf der Baustelle bewusst etwas entgegensetzen. Aber ich bin mir bewusst, dass diese Einbettung in einen Intellektualismus kippen kann, den jene, die es eigentlich betrifft, nicht mehr verstehen. Andererseits wollen wir ja auch nicht, dass sich ein Handwerker mehr Wissen aneignet und damit dann irgendwo in einem Büro landet.
Blicken wir auf die Praxis: Wie steht es ums Handwerk in Graubünden?
Die Qualität nimmt ab. Das Können im Umgang mit den Materialien und das Wissen darüber verschwinden. Als illustre Beispiele dienen die Schreiner und Maler, wo die Industrialisierung ihre Tätigkeit und damit das Berufsbild massiv verändert hat. Baut ein Schreiner heute ein Möbel, muss er die Eigenschaft des Materials nicht mehr kennen. Er schneidet in der Regel eine vorfabrizierte Werkstoffplatte aus Holz zu. Arbeitet ein Schreiner hingegen mit Massivholz, braucht er ganz andere Kenntnisse. Oder der Maler: Es gibt nur noch wenige, die fähig sind, Farben zu mischen, weil die meisten Mischungen industriell hergestellt werden. Ein weiteres Manko der handwerklichen Lehren liegt darin, dass sie sehr technisch ausgerichtet sind. Themen wie Kultur, Wahrnehmung, Form oder Sprache kommen dabei zu kurz.
An diesem Punkt will der Verein Handwerk Bildung mit seinem berufsbegleitenden Lehrgang «Material und Form im Handwerk» ansetzen?
Ja, weil durch die Nivellierung im handwerklichen Prozess auch die kulturellen Differenzen verschwinden. Mit unserem Lehrgang verfolgen wir ein doppeltes Ziel: Einerseits soll dem Handwerker das fachspezifische Können wieder zurückgegeben beziehungsweise optimiert werden. Andererseits geht es um die Vermittlung von Wissen. Wir wünschen uns, dass sich die Handwerker vermehrt mit ihrer eigenen Kultur und mit der fremden auseinandersetzen, dass sie eine Sprache finden, um ihr Tun auch beschreiben und erklären zu können. Denn ich bin überzeugt: Ein guter Handwerker, der sich diese Fähigkeit aneignet, wird ein besserer Handwerker. Schliesslich zielen alle diese Massnahmen aber auch darauf hin, die Wertschätzung des Handwerks in der Gesellschaft zu stärken. Es kann doch nicht sein, dass jeder
gut verdienende Vertreter eines Billigproduktes gesellschaftlich einen höheren Stellenwert hat als ein Handwerker!
Sie haben für den Verein ein Manifest und darin eine Vision formuliert: Dass das Handwerk dem Berggebiet zu neuen Perspektiven verhelfen kann.
Ich bin überzeugt, dass gutes und gezielt gefördertes Handwerk neben dem Tourismus, der Landwirtschaft und der Wasserkraft ein grosses ökonomisches Potenzial birgt fürs Berggebiet.
Wie muss man sich das konkret vorstellen?
Das Prinzip ist einfach: Wir produzieren im Berggebiet Möbel für die Stadt! Weshalb soll alles von der IKEA oder aus der Massenproduktion stammen oder in China eingekauft werden?
Weil es billiger ist.
Das stimmt, doch letztlich ist es eine Frage der Priorität. Ob beim Hausbau oder Möbelkauf: Man muss sich auf das Wichtige konzentrieren und sich fragen, wo man die Mittel einsetzt, die einem zur Verfügung stehen. Mein Grundsatz als Architekt lautet jeweils: Billig darf etwas dort sein, wo es keine Rolle spielt, und teuer dort, wo es langfristig den Wert vermehrt. Die gesamten Investitionskosten bleiben letztlich gleich.
Gibt es bereits konkrete Ansätze für Ihre visionäre Perspektive?
Ja. Es besteht ein spruchreifes Projekt einer grossen Möbelfirma, die eine gezielte Zusammenarbeit mit Handwerkern in Bergregionen sucht. Diese Firma mit Sitz in der Stadt will im Berggebiet Möbel entwerfen und produzieren lassen und würde sie dann über ihr Vertriebssystem vermarkten.
Die vom Verein Handwerk Bildung angestrebte «Schule der Wahrnehmung» müsste aber nicht nur Handwerker, sondern auch Architekten und Bauherren wie grosse Teile der Bevölkerung erfassen, damit die erhoffte baukulturelle Wirkung eintrifft.
Da bin ich zuversichtlich, denn gutes Handwerk strahlt aus! Wenn ein Kunde plötzlich merkt, dass in einem Produkt mehr steckt als nur handwerkliches Geschick, dass das Produkt mit einem ästhetischen Willen gestaltet wurde und in einem kulturellen Umfeld eingebettet ist, zeigt das Wirkung. Es braucht einfach ein bisschen Geduld. Mit der Zeit werden die Leute merken, dass Dinge aus der Massenproduktion kulturell bedeutungslos sind.
Decken sich Ihre Visionen, die Sie über den Verein Handwerk Bildung formulieren, mit jenen Ihres Forschungsprojektes «Orte schaffen» an der ETH in Zürich?
Im Prinzip ist es das Gleiche. Ein Ort ist dann ein guter Ort, wenn dort etwas geschieht. Als die Kühe aus Vrin verschwanden,
wurde das Dorf leer. Als die Touristen kamen, wurde es sinnleer, denn Touristen produzieren nichts. Deshalb träumten wir von Werkstätten als Orte, wo Beziehungen zwischen Stadt und Land entstehen können. Damit könnten wir auch dem Tourismus zu einer Wendung verhelfen; von der inszenierten Erlebniswelt zu einem Erfahrungsraum.
Ist Ihr Engagement auch eine Reaktion auf das Basler ETH-Studio rund um die Architekten Herzog & de Meuron, die vor ein paar Jahren grosse Teile Graubündens zur alpinen Brache erklärten?
Für mich ist es keine Reaktion oder Kritik am Studio Basel, vielmehr eine Suche nach tragfähigen Ideen für Orte ausserhalb der Zentren. Wir können Strategien entwickeln, Gesetze erlassen und Richtlinien aufstellen. Was bringts? Teils durchaus interessante und gelegentlich sogar quantitativ messbare, neue Orte. Die wirklich guten neuen Orte aber entstehen nicht auf diesem Wege! Um sie zu entwickeln, braucht es Ideen und Menschen, die bereit sind, sie umzusetzen. Ein schönes Beispiel in Graubünden ist Valendas. Dort hatten einige Menschen eine Idee zur Belebung des Dorfes. Damit konnten sie andere überzeugen. Es entstand eine Dynamik, die schliesslich zu einer kollektiven Vereinbarung führte. Diese wiederum wirkt nach aussen. Denn wirkliche Veränderungen treten nur dort ein, wo Ideen umgesetzt werden. Sie sind die Triebfeder für Neues.
In Ihrem Projektbeschrieb zu «Orte schaffen» nehmen Sie Bezug auf den französischen Anthropologen Claude Lévi-Strauss und sein Prinzip der «bricolage» als Movens für Veränderungen. Basteln als Triebfeder? Wie muss man das verstehen?
Dem Bastler stehen in der Regel nur beschränkt Materialien und Werkzeuge zur Verfügung. Er muss versuchen, mit den vorhandenen Mitteln etwas Intelligentes zu machen. Gelingt ihm das, schafft er eine ökonomische Relevanz.
Wie aber kriegen Sie Handwerker und Architekten dazu, sich auf dieses Wagnis einzulassen?
Indem ich ihnen klar zu machen versuche, dass das, was sie als gegeben betrachten, nicht der Weisheit letzter Schluss ist. In diesem Zusammenhang erinnere ich mich jeweils an Alberto Giacometti, der seine Gipsfiguren immer wieder zerstört hat und dann gleich wieder neue zu formen begann und dabei gesagt haben soll: «Dieses Mal bin ich ganz nahe dran!» Am Tag darauf aber musste er feststellen, sich getäuscht zu haben – und er fing wieder von vorne an...diese Zuversicht, dass man über stetes Schaffen und Suchen ganz nahe an das Ideal herankommt, finde ich wunderbar wie erstrebenswert. Diese Art des Arbeitens wirkt sinnstiftend.
Die Idee wäre skizziert, das Manifest verfasst, der Lehrgang steht. Was unternehmen Sie, dass die Ideen und Intentionen des Vereins unter die Leute kommen und auch umgesetzt werden?
Wir fahren auf verschiedenen Schienen. Der Lehrgang ist der Hauptstrang. Bald werden wir Vertreter des klassischen Handwerks über unsere Absichten und Ziele informieren und ihnen zeigen, wie über gezielte Weiterbildung ein zusätzlicher Wert geschaffen wird. Und schliesslich werden wir auch versuchen, Lokal- und Regionalpolitiker für unser Anliegen zu gewinnen.
Wer wie Sie nach neuen Wegen sucht und dabei auch das Unwegsame nicht scheut, gilt schnell einmal als Utopist.
Christof Kübler, mein Laudator bei der Verleihung des Bündner Kulturpreises, hat mich als «realen Utopisten» charakterisiert.
Er hatte wohl recht damit. Denn wenn ich als Architekt etwas verändern will, muss ich sowohl Realist wie auch Utopist sein.
Und wenn der reale Utopist träumt: Wie sieht sein Traum vom Raum aus?
Als lebendige Orte, die sich voneinander differenzieren. Diese Differenzen entstehen dann, wenn die herrschenden – natürlichen und kulturellen – Bedingungen zur eigenen, verstehbaren Wirklichkeit für die dort lebenden Menschen werden. So werden Bedeutungen produziert – ohne Bedeutungen und ohne Bedeutungszusammenhänge entsteht keine Kultur. Daher wünsche ich mir eine Schweiz voller neuer Werkstätten!
Verein Handwerk Bildung und die «Schule der Wahrnehmung»
Erstmals öffentlich vorgestellt wurde der Verein «Handwerk Bildung» im September 2015. Kern seiner Aktivitäten ist der Aufbau eines neuen Lehrganges mit dem Schwerpunkt «Material und Form im Handwerk». Angesprochen werden sollen mit dieser «Schule der Wahrnehmung» Handwerkerinnen und Handwerker aus dem Kanton Graubünden, der übrigen Schweiz wie auch aus dem Ausland. Ihnen soll die Möglichkeit geboten werden, «ihr handwerkliches Geschick in einem spezifischen Umfeld zu vertiefen», wie auf der Homepage des Vereins zu lesen ist. Ziel des Lehrganges bestehe darin, «die Teilnehmenden zu befähigen, bei ihrer Arbeit an bestehenden Bauten die traditionellen Verfahren erfolgreich anzuwenden und an neuen Bauten handwerkliche, bauliche und kulturlandschaftliche Kontexte zu berücksichtigen, um gestalterisch gültige Lösungen zu realisieren».
Der Fokus auf das Handwerk hat durchaus eine tiefere Bedeutung. Die Initianten – darunter der Vriner Architekt Gion A. Caminada – sind überzeugt, dass das Handwerk der alpinen Peripherie neben der Landwirtschaft, dem Tourismus und der Wasserkraft eine neue Perspektive geben kann. Damit dies jedoch wirksam werden kann, brauche es neben der handwerklichen Perfektion eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Material, der Form, der Sprache und nicht zuletzt mit der Kulturgeschichte. www.lehrgang-handwerk.ch