Abos!

HANDWERK IST DIE GEDULDIGE ART, ETWAS WERTVOLLES ZU MACHEN.


Gespräch mit dem Vriner Architekten Gion A. Caminada über die Ziele und Absichten des neu gegründeten Vereins Handwerk Bildung und dessen Lehrgang «Material und Form im Handwerk».


Text: Marco Guetg     

Bilder: Lucia Degonda, Mathias Kunfermann

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Treffpunkt, Hauptbahnhof Zürich, 7 Uhr 30. Aus dem Pulk der Pendler löst sich Gion A. Caminada. Wir haben den Vriner Architekten und Dozenten an der ETH Zürich zum Gespräch gebeten, um uns kundig zu machen über den Verein Handwerk Bildung und den damit verbundenen Lehrgang «Material und Form im Handwerk». Denn das Ziel ist hoch gesteckt. Mit dem Ende 2015 gegründeten Verein wollen Caminada und ein paar Mitstreiter dem Handwerk in Graubünden zu neuer Blüte verhelfen. Bei unserem Frage- und Antwortreigen am Beizentisch wird schnell klar: Ein Gespräch mit dem preisgekrönten Architekten über das Handwerk führt bald über das rein Handwerkliche hinaus, führt vom Kleinen ins Grosse, führt vom Ort in die Region, weil das Ganze Ausdruck ist einer Vision, die letztlich den Lebensnerv einer Bergregion tangiert.



Gion A. Caminada, klären wir zu Beginn den Begriff: Was verstehen Sie unter Handwerk?
Handwerk ist die geduldige Art, etwas Wertvolles zu machen.

 

 

Darunter kann ziemlich alles fallen.
Das soll auch so sein. Zum Handwerk zählt mehr, als was land­läufig darunter verstanden wird, mehr als nur die Arbeit der Schreiner und Maurer.

 

 

Gehen Sie so weit wie der amerikanische Soziologe Richard Sennett in seinem grossen Essay über das Handwerk, der sogar Laboranten und Dirigenten dazu zählt...
...noch etwas weiter, wenn Sie wollen: Der Philosoph Peter Bieri hat ein Buch über das «Handwerk der Freiheit» geschrieben, und vom Architekturtheoretiker Vittorio Magnago Lampugnani stammt das Buch «Stadtbau als Handwerk»...

 

 

...Sennett, Bieri, Lampugnani: Läuft man bei solchen Referenzen nicht Gefahr, das Handwerk zu intellektualisieren?
Diese Gefahr besteht. Doch wir möchten mit diesen Referenzen an Denker und Bücher dem gängigen Bild des Büezers auf der Baustelle bewusst etwas entgegensetzen. Aber ich bin mir bewusst, dass diese Einbettung in einen Intellektualismus kippen kann, den jene, die es eigentlich betrifft, nicht mehr verstehen.  Andererseits wollen wir ja auch nicht, dass sich ein Handwerker mehr Wissen aneignet und damit dann irgendwo in einem Büro landet.

 

 

Blicken wir auf die Praxis: Wie steht es ums Handwerk in Graubünden?
Die Qualität nimmt ab. Das Können im Umgang mit den Materialien und das Wissen darüber verschwinden. Als illustre Beispiele dienen die Schreiner und Maler, wo die Industrialisierung ihre Tätigkeit und damit das Berufsbild massiv verändert hat. Baut ein Schreiner heute ein Möbel, muss er die Eigenschaft des Materials nicht mehr kennen. Er schneidet in der Regel eine vorfabrizierte Werkstoffplatte aus Holz zu. Arbeitet ein Schreiner hingegen mit Massivholz, braucht er ganz andere Kenntnisse. Oder der Maler: Es gibt nur noch wenige, die fähig sind, Farben zu mischen, weil die meisten Mischungen industriell hergestellt werden. Ein weiteres Manko der handwerklichen Lehren liegt darin, dass sie sehr technisch ausgerichtet sind. Themen wie Kultur, Wahrnehmung, Form oder Sprache kommen dabei zu kurz.

 

 

An diesem Punkt will der Verein Handwerk Bildung mit seinem berufsbegleitenden Lehrgang «Material und Form im Handwerk» ansetzen?
Ja, weil durch die Nivellierung im handwerklichen Prozess auch die kulturellen Differenzen verschwinden. Mit unserem Lehrgang verfolgen wir ein doppeltes Ziel: Einerseits soll dem Handwerker das fachspezifische Können wieder zurückgegeben beziehungsweise optimiert werden. Andererseits geht es um die Vermittlung von Wissen. Wir wünschen uns, dass sich die Handwerker vermehrt mit ihrer eigenen Kultur und mit der fremden auseinandersetzen, dass sie eine Sprache finden, um ihr Tun auch beschreiben und erklären zu können. Denn ich bin überzeugt: Ein guter Handwerker, der sich diese Fähigkeit aneignet, wird ein besserer Handwerker. Schliesslich zielen alle diese Massnahmen aber auch darauf hin, die Wertschätzung des Handwerks in der Gesellschaft zu stärken. Es kann doch nicht sein, dass jeder
gut verdienende Vertreter eines Billigproduktes gesellschaftlich einen höheren Stellenwert hat als ein Handwerker!

 

 

Sie haben für den Verein ein Manifest und darin eine Vision formuliert: Dass das Handwerk dem Berggebiet zu neuen Perspektiven verhelfen kann.
Ich bin überzeugt, dass gutes und gezielt gefördertes Handwerk neben dem Tourismus, der Landwirtschaft und der Wasserkraft ein grosses ökonomisches Potenzial birgt fürs Berggebiet.

 

 

Wie muss man sich das konkret vorstellen?
Das Prinzip ist einfach: Wir produzieren im Berggebiet Möbel für die Stadt! Weshalb soll alles von der IKEA oder aus der Massenproduktion stammen oder in China eingekauft werden?

 

 

Weil es billiger ist.
Das stimmt, doch letztlich ist es eine Frage der Priorität. Ob beim Hausbau oder Möbelkauf: Man muss sich auf das Wichtige konzentrieren und  sich fragen, wo man die Mittel einsetzt, die einem zur Verfügung stehen. Mein Grundsatz als Architekt lautet jeweils: Billig darf etwas dort sein, wo es keine Rolle spielt, und teuer dort, wo es langfristig den Wert vermehrt. Die gesamten Investitions­kosten bleiben letztlich gleich.

 

 

Gibt es bereits konkrete Ansätze für Ihre visionäre Perspektive?
Ja. Es besteht ein spruchreifes Projekt einer grossen Möbelfirma, die eine gezielte Zusammenarbeit mit Handwerkern in Berg­­regionen sucht. Diese Firma mit Sitz in der Stadt will im Berggebiet Möbel entwerfen und produzieren lassen und würde sie dann über ihr Vertriebssystem vermarkten.

 


Die vom Verein Handwerk Bildung angestrebte «Schule der Wahrnehmung» müsste aber nicht nur Handwerker, sondern auch Architekten und Bauherren wie grosse Teile der Bevölkerung erfassen, damit die erhoffte bau­kulturelle Wirkung eintrifft.
Da bin ich zuversichtlich, denn gutes Handwerk strahlt aus! Wenn ein Kunde plötzlich merkt, dass in einem Produkt mehr steckt als nur handwerkliches Geschick, dass das Produkt mit einem ästhetischen Willen gestaltet wurde und in einem kulturellen Umfeld eingebettet ist, zeigt das Wirkung. Es braucht einfach ein bisschen Geduld. Mit der Zeit werden die Leute merken, dass Dinge aus der Massenproduktion kulturell bedeutungslos sind.

 

 

Decken sich Ihre Visionen, die Sie über den Verein Handwerk Bildung formulieren, mit jenen Ihres Forschungsprojektes «Orte schaffen» an der ETH in Zürich?
Im Prinzip ist es das Gleiche. Ein Ort ist dann ein guter Ort, wenn dort etwas geschieht. Als die Kühe aus Vrin verschwanden,
wurde das Dorf leer. Als die Touristen kamen, wurde es sinnleer, denn Touristen produzieren nichts. Deshalb träumten wir von Werkstätten als Orte, wo Beziehungen zwischen Stadt und Land entstehen können. Damit könnten wir auch dem Tourismus zu einer Wendung verhelfen; von der inszenierten Erlebniswelt zu einem Erfahrungsraum.

 

 

Ist Ihr Engagement auch eine Reaktion auf das Basler ETH-Studio rund um die Architekten Herzog & de Meuron, die vor ein paar Jahren grosse Teile Graubündens zur alpinen Brache erklärten?
Für mich ist es keine Reaktion oder Kritik am Studio Basel, vielmehr eine Suche nach tragfähigen Ideen für Orte ausserhalb der Zentren. Wir können Strategien entwickeln, Gesetze erlassen und Richtlinien aufstellen. Was bringts? Teils durchaus interessante und gelegentlich sogar quantitativ messbare, neue Orte. Die wirklich guten neuen Orte aber entstehen nicht auf diesem Wege! Um sie zu entwickeln, braucht es Ideen und Menschen, die bereit sind, sie umzusetzen. Ein schönes Beispiel in Graubünden ist Valendas. Dort hatten einige Menschen eine Idee zur Belebung des Dorfes. Damit konnten sie andere überzeugen. Es entstand eine Dynamik, die schliesslich zu einer kollektiven Vereinbarung führte. Diese wiederum wirkt nach aussen. Denn wirkliche Veränderungen treten nur dort ein, wo Ideen umgesetzt werden. Sie sind die Triebfeder für Neues.

 

 

In Ihrem Projektbeschrieb zu «Orte schaffen» nehmen Sie Bezug auf den französischen Anthropologen Claude Lévi-Strauss und sein Prinzip der «bricolage» als Movens für Veränderungen. Basteln als Triebfeder? Wie muss man das verstehen?
Dem Bastler stehen in der Regel nur beschränkt Materialien und Werkzeuge zur Verfügung. Er muss versuchen, mit den vorhandenen Mitteln etwas Intelligentes zu machen. Gelingt ihm das, schafft er eine ökonomische Relevanz.

 

 

Wie aber kriegen Sie Handwerker und Architekten dazu, sich auf dieses Wagnis einzulassen?
Indem ich ihnen klar zu machen versuche, dass das, was sie als gegeben betrachten, nicht der Weisheit letzter Schluss ist. In diesem Zusammenhang erinnere ich mich jeweils an Alberto Giacometti, der seine Gipsfiguren immer wieder zerstört hat und dann gleich wieder neue zu formen begann und dabei gesagt haben soll: «Dieses Mal bin ich ganz nahe dran!» Am Tag darauf aber musste er feststellen, sich getäuscht zu haben – und er fing wieder von vorne an...diese Zuversicht, dass man über stetes Schaffen und Suchen ganz nahe an das Ideal herankommt, finde ich wunderbar wie erstrebenswert. Diese Art des Arbeitens wirkt sinnstiftend.

 

 

Die Idee wäre skizziert, das Manifest verfasst, der Lehrgang steht. Was unternehmen Sie, dass die Ideen und Intentionen des Vereins unter die Leute kommen und auch umgesetzt werden?
Wir fahren auf verschiedenen Schienen. Der Lehrgang ist der Hauptstrang. Bald werden wir Vertreter des klassischen Handwerks über unsere Absichten und Ziele informieren und ihnen zeigen, wie über gezielte Weiterbildung ein zusätzlicher Wert geschaffen wird. Und schliesslich werden wir auch versuchen, Lokal- und Regionalpolitiker für unser Anliegen zu gewinnen.

 

 

Wer wie Sie nach neuen Wegen sucht und dabei auch das Unwegsame nicht scheut, gilt schnell einmal als Utopist.
Christof Kübler, mein Laudator bei der Verleihung des Bündner Kulturpreises, hat mich als «realen Utopisten» charakterisiert.
Er hatte wohl recht damit. Denn wenn ich als Architekt etwas verändern will, muss ich sowohl Realist wie auch Utopist sein.

 

 

Und wenn der reale Utopist träumt: Wie sieht sein Traum vom Raum aus?
Als lebendige Orte, die sich voneinander differenzieren. Diese Differenzen entstehen dann, wenn die herrschenden – natürlichen und kulturellen – Bedingungen  zur eigenen, verstehbaren Wirklichkeit für die dort lebenden Menschen werden. So werden Bedeutungen produziert – ohne Bedeutungen und ohne Bedeutungszusammenhänge entsteht keine Kultur. Daher wünsche ich mir eine Schweiz voller neuer Werkstätten!

 

 

Verein Handwerk Bildung und die «Schule der Wahrnehmung»
Erstmals öffentlich vorgestellt wurde der Verein «Handwerk Bildung» im September 2015. Kern seiner Aktivitäten ist der Aufbau eines neuen Lehrganges mit dem Schwerpunkt «Material und Form im Handwerk». Angesprochen werden sollen mit dieser «Schule der Wahrnehmung» Handwerkerinnen und Handwerker aus dem Kanton Graubünden, der übrigen Schweiz wie auch aus dem Ausland. Ihnen soll die Möglichkeit geboten werden, «ihr handwerkliches Geschick in einem spezifischen Umfeld zu vertiefen», wie auf der Homepage des Vereins zu lesen ist. Ziel des Lehrganges bestehe darin, «die Teilnehmenden zu befähigen, bei ihrer Arbeit an bestehenden Bauten die traditionellen Verfahren erfolgreich anzuwenden und an neuen Bauten handwerkliche, bauliche und kulturlandschaftliche Kontexte zu berücksichtigen, um gestalterisch gültige Lösungen zu realisieren».

Der Fokus auf das Handwerk hat durchaus eine tiefere Bedeutung. Die Initianten – darunter der Vriner Architekt Gion A. Caminada – sind überzeugt, dass das Handwerk der alpinen Peripherie neben der Landwirtschaft, dem Tourismus und der Wasserkraft eine neue Perspektive geben kann. Damit dies jedoch wirksam werden kann, brauche es neben der handwerklichen Perfektion eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Material, der Form, der Sprache und nicht zuletzt mit der Kulturgeschichte. www.lehrgang-handwerk.ch


Gion A. Caminada

Gion A. Caminada ist in Vrin geboren und gehört zu den wichtigsten und bekanntesten Architekten der Schweiz. Nach einer Lehre als Bauschreiner und dem Besuch der Kunstgewerbeschule in Zürich absolvierte er ein Nach­diplomstudium an der ETH Zürich, wo er heute als Professor für Architektur und Entwurf tätig ist. International berühmt wurde er mit der Planung und Umgestaltung seines Heimatdorfes Vrin, wo er nach wie vor ein Architekturbüro führt. Caminada hat zahlreiche nationale wie internationale Preise erhalten. Graubünden hat sein Schaffen 2011 mit dem Bündner Kulturpreis geehrt.


Manifest Handwerk Bildung

Arm und reich sind extreme Gegensätze. Ob eine Person oder eine Region als arm betrachtet werden, ist eine Frage der Perspektive, aber auch des jeweiligen Interesses an ihren oftmals unterschiedlichen Eigenschaften. Ändern sich diese Interessen und die Zuwendung, so kann etwas, das bisher als arm eingestuft wurde, plötzlich reich sein.

Neuerdings werden mit dem Begriff «potenzialarme Räume» auf der Schweizer Landkarte Regionen als benachteiligt klassifiziert und dabei ausschliesslich nach ökonomischen Kriterien bewertet. Aus einer solchen materiellen Betrachtung heraus sind die meisten Regionen Graubündens arm. Für gewisse Entscheidungsfindungen kann es sinnvoll sein, Gebiete nach mecha­nistisch-funktionalen Kriterien zu beurteilen. Für den ganzheitlichen Lebensraum, so wie wir uns diesen vorstellen, genügt diese Kategorisierung jedoch nicht. Ein solcher Raum ist die Zusammenkunft von Vorhandenem, aber auch von Gedachtem, ein Konzentrat aus Erfahrenem und dem Kalkül des Möglichen. Unser Ziel für den ganzheitlichen Raum bleibt stets eine Deckungsgleichheit von wirtschaftlichen und kulturellen Phänomenen, von rationalen und sinnlichen Aspekten. Die Ökonomie bestimmt heute weitgehend die Entwicklung und demzufolge den Wert eines Territoriums. Gebiete, die nicht über markttaugliche Ressourcen verfügen, werden zum Restraum deklariert. Was können und was wollen wir als Bewohner eines solchen Territo­riums tun? Diese Tendenzen als unausweichliches Schicksal akzeptieren oder den Verlusterfahrungen Folge leisten und an gescheiterten Prinzipien festhalten? Oder gibt es einen dritten Weg, der aus diesen Sachzwängen führt?

Verlusterfahrungen können je nach Interessen mit einem materiellen oder immateriellen Gut verbunden sein. Für den Menschen, der die Gemeinschaft als Wert sieht, ist es beispielsweise ein Verlust, wenn die Kinder nicht mehr im Dorf zur Schule gehen oder wenn der Dorfladen und die Post verschwinden. Ein Mensch mit ideellen Vorstellungen – für das Glück genauso existenziell wie rationale Aspekte – erachtet z. B. die Tatsache als Verlust, dass der Sonntag zum normalen Werktag deklariert wird oder wenn die Kühe keine Hörner mehr tragen dürfen. In Kreisen der Baubranche wird der unterdessen verhinderte Zweitwohnungsbau als ein Verlust von nahezu tragischer Dimension betrachtet. Nur durch ein fehlendes Verständnis für Zusammenhänge lässt sich erklären, warum viele Menschen noch immer dem Zweitwohnungsbau nachtrauern. Diejenigen, die den Verlust und den Gewinn bilanzieren und einen lebenswerten Ort als Ziel haben, werden nicht bestreiten, dass dieses Prinzip eigentlich gescheitert ist; die Dörfer sind zwar grösser geworden, aber gleichzeitig (sinn)leerer. Eine kompromisslose Einseitigkeit, die den Blick für die Zusammenhänge verstellt, erleben wir auch in der Tourismusbranche, bei der Landwirtschaft und in der Politik.


Sieht so potenzialarmes Brachland aus?  Hier das Albulatal Richtung Landwasser-Viadukt.Bergell Richtung NordenSchamserbergKunkelspass Richtung Graubünden

Als Ursache für den anhaltenden Schwund im Berggebiet sehen viele Menschen die fehlenden Arbeitsplätze und die Distanz zu den Zentren. Diese Bewegung hin zu den Zentren findet weltweit statt. Sie ist komplexer Natur und lässt sich nicht einzig durch die Schaffung von Arbeitsplätzen oder mit besseren Erschliessungen umkehren. Die Stadt als Zentrum scheint die Bedingungen einer virtuell orientierten Gesellschaft am besten zu erfüllen. Nicht alle betrachten den Bevölkerungsschwund im Alpenraum als Tragödie. Siedlungen in peripheren Lagen wurden immer wieder verlassen und aufgegeben. Mehr Sorge bereitet die Resignation und die nachfolgende Gleichgültigkeit. Wir vertreten entschieden die Meinung, dass erst der überschaubare Raum und die Nähe zu den Dingen jene Hoffnung und Motivation versprechen, die notwendig ist, um Verantwortung für den eigenen Ort und für die Umwelt zu übernehmen. Und gerade in dieser Nähe zu den Dingen sehen wir eine dritte Option für den Umgang mit unserem Lebensraum und fügen auf der Karte im städtebaulichen Porträt des ETH Studio Basel der Brache und den alpinen Resorts ein drittes Territorium hinzu, das über dieses scheinbar Gegebene hinausweist – den ortsspezifisch verankerten Traum der kulturellen, sozialen und architektonischen Utopie. Eine Utopie mit realen Möglichkeiten. Diesen Raum präzise abgesteckter und doch individuell offener Handlung bezeichnen wir als «Idee» im Sinne einer konkreten Utopie. Die Idee als etwas, das durch den Willen des Menschen geprägt und getragen ist. Diese Auffassung von «Idee» hält konkrete, wohldefinierte Schritte für wichtig, zugleich eine Richtungsan­gabe für weitere Folgeschritte.

Gerade in alpinen Regionen scheinen Ideen einfacher umsetzbar zu sein. Die immer wieder erwähnten Defizite – schlechte
Erreichbarkeit, zu kleine Bevölkerungszahl oder die zu grosse Distanz zu den Zentren – verlieren in der starken Idee an Relevanz und können sogar zum Standortvorteil werden. Das Mass der Distanz sagt nichts über die Intensität einer Beziehung aus. Nichtpotenziale werden zu Potenzialen. Oder auf den Punkt gebracht: Potenziale gibt es gar nicht, ausser sie werden gesehen und durch dieses Sehen zur wirksamen Realität.

Wir betrachten gerade das Handwerk als eine nicht ausgeschöpfte Möglichkeit für die Existenz im Berggebiet. Ein solches – ausserordentliches und auch ökonomisch zu nutzendes Potenzial von vielen peripheren Lebensräumen – liegt in der handwerklichen Begabung der dort lebenden Menschen. Unser Verständnis von Handwerk umreisst ein sehr weites Feld. Ein solches Handwerk bezeichnen wir als die geduldige und sorgfältige Art, etwas Wertvolles zu machen – zwischen aktivem Tun und reflexiver Betrachtung. Diese Art des Denkens und Handelns bezieht sich dabei nicht nur auf bekannte Bereiche. Der Philosoph Peter Bieri spricht vom Handwerk der Freiheit und Jorge Luis Borges hat ein Buch über das Handwerk des Dichters geschrieben. Richard Sennett seinerseits fordert, dass auch der Arzt, der Erzieher, der Künstler oder der Programmierer seine Arbeit als ein Handwerk verstehen sollte. Auch der geniale Einfall braucht zu seiner Reife die handwerkliche Bearbeitung.

Mit dieser Vorstellung von Handwerk möchte ich denjenigen widersprechen, die behaupten, dass das Handwerk etwas Altmodisches sei. Im Gegenteil. Es gibt gute Gründe, dem Handwerk eine höhere Wertschätzung entgegenzubringen. Die Idee will den Stand des Handwerkes verbessern, ist aber mehr als ein Unternehmen gegen das zunehmende Verschwinden einer besonderen Gattung; die Idee ist gleichzeitig ein Denken über die Zukunft der Schweiz.



Dies ist ein verkürzter Auszug des von Prof. Gion A. Caminada verfassten und am 8. September 2015 veröffentlichten «Manifestes Handwerk Bildung». Den ganzen Text und weitere Informationen über die Entwicklung des Projektes finden Sie unter www.lehrgang-handwerk.ch.