Abos!

WAS ENERGETISCH INTELLIGENT IST, KANN ARCHITEKTONISCH FALSCH SEIN.

Norbert Mathis führt in der Altstadt von Chur ein Architekturbüro. Es ist ein kleines Büro mit bemerkenswerten und mit Preisen dekorierten Bauten. Ein Gespräch mit Norbert Mathis in seinem Atelier in Chur über sein Schaffen, das stark von der Ökologie geprägt ist. 

Text: Marco Guetg
Bilder: Ralph Feiner, Mathias Kunfermann, Christina Mathis, Christoph Siebert

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Man erlebt es immer wieder: Im Gespräch fällt ein Wort, das man nicht kennt. Man hört es, stutzt und stolpert in seine Bedeutung. «Hausverstand» ist so ein Wort. Erstmals hörten wir es diesen Sommer im Büro des Churer Architekten Norbert Mathis. Im Kontext wurde dann gleich klar, was er mit diesem Kompositum sagen will. Erstens: Bauen hat immer auch mit angewandter Vernunft zu tun. Zweitens: Achte darauf, dass beim Bauen die Theorie nicht die einfachste Lösung verbaut!

Chur, Obere Gasse 5. Ein Nachmittag im Juni. Norbert Mathis stellt sein Stadtvelo vor den Hauseingang. Er kommt vom nahen «Sand», wo er sich über Mittag die sommerliche Schwüle vom Leib gebadet hat. Wir steigen die Treppe hoch. Ein Rennvelo steht in der Diele, schwarz und schnittig. Es ist Mathis' Schönwetter-Vehikel. Damit ist er am Morgen von Trin nach Chur gerollt, damit wird er am Abend wieder hoch fahren, zur Casa Mathis, in der er seit 2008 mit seiner Familie wohnt. Dort hatte er ursprünglich auch sein Atelier eingerichtet, treu dem ökologischen Grundsatz nachlebend, dass Leben und Arbeit möglichst nahe beieinander liegen sollen. Doch dann legte sich die Lebens­wirklichkeit quer. Dem Ur-Churer fehlten in seiner Trinser Enklave die sozio-kulturellen Interaktionen der Stadt. Norbert Mathis trug seinen Zeichentisch zurück in die Churer Altstadt. Durch die hinteren Bürofenster blickt man auf den Arcas. Dort, im «Grünen Haus», ist Norbert Mathis aufgewachsen.

Das Büro ist hell. Im Hintergrund werkelt eine Architektin aus Japan an einem Modell. An den Wänden hängen Pläne und Skizzen. Der Besucher hat Zeitungsartikel mitgebracht, Notizen über Auszeichnungen, eine grosse Reportage über die prämierte Casa Mathis in einem Wohnmagazin. Und er hat sich über die Homepage über Norbert Mathis‘ Philosophie kundig gemacht. Dort steht: «Das Faszinierende an der Architektur ist für mich die Freude des Entdeckens, das Tüfteln mit Raum, Material und Form»; dort erfahren wir, dass beim Entstehungsprozess «philo­sophiert, diskutiert, skizziert und modelliert wird» und was den 45-Jährigen inspiriert: «die Natur, Berge, Musik, Philosophie, gebaute und auch die ungebaute Realität.»


Atelier-/Büroraum in der Casa Mathis, TrunArvenküche Lorez, Parpan (2007). Norbert Mathis' Start in die Selbständigkeit.

Es hat ein paar Jahre gedauert, bis Norbert Mathis sich in die Selbständigkeit wagte. Der 16-Jährige überbrückt seine lehrstellenlose Zeit als Handlanger in einer Baufirma in Felsberg («Die härtesten Monate in meinem Leben, aber ich möchte sie nicht missen»), lernt danach Hochbauzeichner im Büro von Urs Zinsli in Chur, zeichnet im Anschluss im Büro von Hanspeter Menn. Bald verspürt Norbert Mathis Lust auf Weitung wie Vertiefung. Er besucht das Abendtechnikum in Chur, Abteilung Architektur. Die nächsten vier Jahre wird diese Ausbildung den Lebensrhythmus bestimmen. Von 8 bis 16 Uhr Job als Hochbauzeichner, von 17 bis 21 Uhr Schule. Gelernt wird irgendwann dazwischen. 1996 schliesst Norbert Mathis sein Studium bei Christian Wagner ab. Seine Diplomarbeit «Wohnbauten mit Ateliers am Churer Altstadtrand» wird als «beste Diplomarbeit des Jahres» prämiert.

Norbert Mathis bleibt in Chur und arbeitet ein knappes Jahrzehnt im Büro von Conradin Clavuot. Diese gute Adresse sollte prägend sein. Norbert Mathis entwirft, konstruiert, geht auf Baustellen, unter den vielen Projekten aus dem Büro Clavuot ist auch das Haus Raselli in Poschiavo. Es wird 2005 von der Zeitschrift «Ideales Heim» mit einem «MAX» als «bestes Einfamilienhaus» ausgezeichnet. Norbert Mathis, dipl. arch. HTL und Mitglied des Schweizerischen Werkbundes SWB, weiss, wie hoch sein kreativer Anteil am Entwurf dieses Hauses ist. Das nährt sein Selbstbewusstsein und er macht sich selbständig. Als sicheres Standbein bei diesem unsicheren Beginn dient ihm ein Lehrauftrag an der HTW. Parallel dazu folgen die ersten Aufträge. Eine Küche in Arvenholz in Parpan, sein Haus in Trin. Bald kommen weitere Arbeiten dazu, Einfamilienhäuser und Gemeindebauten und er gewinnt zusammen mit dem Churer Büro Hemmi & Vasella den Wettbewerb für einen Werk- und Forsthof in Bonaduz/Rhäzüns. Hier und dort gibt es Preise. Überblickt man das Gebaute, sieht man: Norbert Mathis hat seine Handschrift früh schon gefunden und ist ihr treu geblieben.

Was ihn geprägt hat? Sind es vor allem Architekten? Lehrmeister Zinsli? Professor Wagner oder später der Kreativgroove im Büro Clavuot? Oder schöpft er sein Sehen eher aus dem Anschauen von Bildern und Bauten? Hat sein Südamerika-Trip sein Formgefühl geprägt? Wenn er darauf eine Antwort hätte! Dann aber sagt er: «Wahrscheinlich spielen alle diese Faktoren zusammen – wie früher.» Er habe sich stets mit den verschiedensten Sachen beschäftigt. Töffmotoren demontiert. Computerteile gelötet. Basic-Programme geschrieben. Dann fällt der Titel jenes Jugendbuches, das ihn geprägt hat: «Wie funktioniert das?». Eine Konstante in Mathis' Welterfahrung ist die Frage nach dem Wie – auch als Architekt: «Wie ist ein Haus gebaut und vor allem: Wie baut man es intelligent?»

Ja, wie? Ein gestalterisches Allerweltsrezept hat Norbert Mathis nicht parat. Aber auch keine Theorie. Spricht er über seine Bauten, tut er es mit Bedacht, ornamentiert sie nicht mit Wortgirlanden. «Während des Entwurfs kann ich mich nur schwer erklären und beim fertigen Gebäude fehlen mir die Worte über das Gebaute erst recht», sagt er. Versucht er dennoch, den gestalterischen Prozess begrifflich zu fassen, spricht der Praktiker: «Die Hand macht es!» Und Geduld. Denn Ideen entstünden nicht, «wenn man zehn Stunden an einer Lösung grübelt. Sie tauchen unvermittelt auf, beim Schwimmen oder Rennen oder beim Nichtstun.» Wichtig sei die richtige Kombination der Gestaltungselemente – ähnlich wie in der Musik. «Alle Musiker arbeiten mit den gleichen zwölf Tönen, die Interpretation aber klingt immer ein wenig anders.» Die «Töne» des Architekten sind die Wände, Räume, Fenster, Beläge und Oberflächen und die wiederum stehen im Wechselspiel mit dem Ort, der Bauherrschaft, dem Budget, dem Material, dem Baugesetz . . . «Alle diese Faktoren spielen eine Rolle», sagt Mathis, «was dann geschieht, ist oft instinktiv.»


Werkhof Bonaduz (2010). Gemeinsam mit dem Büro Hemmi & Vasella entworfen und 2012 mit dem Prix Lignum ausgezeichnet.Schnitzelheizung Fläsch (2013). Die Anlage erhielt einen Anerkennungspreis an der diesjährigen Verleihung des Bündner Holzpreises «Holz mit Pfiff».Norbert Mathis

Bauen, das weiss Norbert Mathis nur zu gut, ist immer ein Eingriff in die Natur («Ein Einfamilienhaus im Grünen zum Beispiel finde ich problematisch»). Seine Haltung ist unmissverständlich. «Es ist eigentlich absurd, welche Ressourcen wir verbrauchen, nur um zu wohnen.» Dann fällt das Allerweltswort «Nachhaltigkeit». Bewusst habe er es erstmals 1996 während einer Vorlesung in Betriebswirtschaft gehört. Und in der Lehre? Nichts. Als Hochbauzeichner? Nichts. Im «Abendtechnikum»? Nichts. Ökologische Fragestellungen hätten ihn aber immer interessiert. «Wir sind ein Teil dieser Welt und müssen sorgsam damit umgehen», sagt’s und liefert ein paar Stichworte, wie er als Architekt den ökologischen Fussabdruck optimieren kann: «Nahe Wege, sich möglichst mit eigener Muskelkraft fortbewegen, kleine Räume, vernünftig beheizt . . . für die Umwelt am besten aber wäre eh der Nicht-Bau, was aufgrund unserer klimatischen Bedingungen schwierig ist.» Baut man trotzdem, kann man «einen Teil der negativen Aus­wirkungen über das Material, die Energie oder schlicht über die Positionierung eines Gebäudes mindern.» Mit Folgen: «Denn», erklärt Mathis an diesem Junitag in seinem Churer Atelier, «was energetisch intelligent ist, kann architektonisch falsch sein.» Eine Konzession, die Norbert Mathis bei seinem eigenen Haus in Trin eingegangen ist. Aus ökologischen Gründen hat er die Ausrichtung des Firstes architektonisch bewusst «falsch» gesetzt.

Beim Blick aufs Ganze gibt es weder ein Primat der Ästhetik noch der Ökologie. Norbert Mathis plädiert für deren optimale Syn­­these. «Nur schön bauen genügt nicht. Der Architekt hat auch eine Verantwortung. Er baut in einem gesellschaftlichen, ökonomischen, sozialen, kulturellen und ökologischen Kontext und weder in einem luft- und schon gar nicht in einem wertfreien Raum.» Ab und zu wird’s beim Bauen dann auch ganz prag­matisch: «Ökologie ist nicht billig.» Und so steht der Wille zur Nachhaltigkeit gelegentlich in Konkurrenz zu den finanziellen Möglichkeiten der Bauherrschaft. «Nur wegen der Nachhaltigkeit», findet Norbert Mathis, «darf man den Hausverstand nicht verlieren.» Hausverstand? Heisst das: Erlaubt ist, was individuell möglich ist? Nein, was die Vernunft befiehlt.

Man hört Norbert Mathis zu und fragt: Sind Sie ein Fundi? Er schaut den Fragenden kurz an: «NEIN! Das wäre dumm!» Allein schon die Fakten verlangen Flexibilität. «Zugegeben: Minergie-P ist der Rolls Royce unter den ökologischen Häusern», sagt Norbert Mathis und relativiert gleich: «Sowohl ihre Herstellung wie auch ein allfälliger Rückbau fressen viel graue Energie.» Also gelte es beim Bauen – zum zweiten Mal fällt das Wort, das wir bis zu diesem Frühsommer nicht gekannt haben – «den Hausverstand walten zu lassen». Dazu gehöre eben auch, «eine schlaue Ba­lance zu finden zwischen Effizienz, Suffizienz, Ästhetik und Konstruktion.»

Am Schluss unseres Gespräches steht Norbert Mathis auf, holt von einem Tisch einen versteinerten Kopffüssler, 150 Millionen Jahre alt, und erklärt dem Besucher sichtlich begeistert dessen Form, entstanden durch unergründliche Gesetzmässigkeiten der Natur. Der Besucher hört und schaut und denkt sich: Norbert Mathis orientiert sich auch an der Natur, wenn er etwas in die Natur setzt. Was, denkt sich der Besucher, wäre wohl aus dem sportlichen Mitvierziger geworden, wenn nicht Architekt? Er fragt, Norbert Mathis zögert kurz, setzt zu einer Selbstbefragung an: «Wanderer?» Pause. «Ja, Wanderer! Mit eigener Muskelkraft unterwegs sein, das wäre eine Alternative.»