Abos!

EIN WELT-HAUS FÜR QUERDENKER UND FREIGEISTER.


Wer mehr als 30 Jahre seines Lebens im Ausland gelebt und gearbeitet hat, bringt viele Erfahrungen und Eindrücke im Gepäck mit. Gepäck legt man ab, Erlebtes trägt man in sich. Wenn dies in einen Neubau einfliesst, entsteht ein nicht ganz gewöhnliches Haus.

 

Text: Markus Mehr     

Bilder: Mathias Kunfermann

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Max Schneider hat Gespür, ist ein Querdenker und Freigeist. Das verschaffte ihm bereits während seiner internationalen beruflichen Laufbahn als Topmanager Erfolg. Als Max und Andrea Schneider nach ihrer Rückkehr ins Engadin im 2003 das Restaurant «la baracca» in einer alten Baubaracke in St. Moritz-Bad eröffneten, verblüfften sie damit die Gastro-Szene und die Gäste waren begeistert. Dass dieser Max auch anders bauen würde, war für mich klar. Natürlich brannte ich darauf, das nicht alltägliche Haus anzusehen.


Mit fliegendem Dach

Alles perfekt geplant: Die Wintersaison ist zu Ende, genügend Zeit für ein gutes Gespräch und eine Besichtigung verbunden mit einem Ausflug ins schöne Engadin. «Du wirst das Haus am ‹fliegenden Dach› erkennen», so die letzte Anweisung des Bauherrn. Ich fahre über Suvretta, vorbei an Chalets und Bergvillen, hoch bis Sala­strains, um via Chantarella von oben in die Via Tinus zu gelangen. Erschlagen vom Panorama auf die gegenüberliegende Bernina-Gruppe und die Seen steht es plötzlich vor mir. Unverkennbar, das muss es sein. Ganz am Rande zum steil abfallenden Hang nach St.  Moritz liegt das Haus wie eine gestrandete Arche und erinnert mit seinem geschweiften Dach mit Spitzgiebel, den geschwungenen Lukarnen und den spitz­bogigen Eingängen an einen asiatischen Tempelbau. Ebenso ungewöhnlich und auffällig sind die kreisrunden Fenster. Meisterhaftes Handwerk, aber weder Tempel noch Arche.


Orientalische, indische, asiatische Einflüsse prägen den Bau.  Besonders auffällig, das «fliegende Dach».Die Mauer aus antiken Backsteinen und der an die Decke gehängte,  argentinische Grill vermitteln Interieur-Design im Industrial-Style.

Ein buntes Kaleidoskop aus dem Leben

Bei Kaffee und Kuchen in der gemütlichen Wohnküche, unmittelbar neben einem hängenden argentinischen Grill, kommen wir ins Gespräch. Und auf viele logische Antworten zum einzigartigen Haus. Der Entscheid für einen Neubau wurde geprägt von sich ändernden Bedürfnissen. So sind die Kinder erwachsen und in der ganzen Welt verteilt, das im Jahre 1955 von den Eltern gebaute Haus verfügte über ein unzeitgemässes Raumprogramm, zudem war es sanierungsbedürftig und nicht wirklich von erhaltenswerter Substanz. Dies und der Wunsch, etwas Neues zu gestalten, führten zum Entscheid für einen Neubau. Mit klarem Anspruch an den Architekten: «Ein Architekt sollte vor allem eines können: Gut zuhören», meint Max ernsthaft, «und ein ‹Nein› muss er verdammt gut begründen», und lacht mit Schalk in den Augen. In Roland Hinzer haben Max und Andrea Schneider einen Architekten gefunden, welcher offensichtlich sehr gut zugehört hat und die kreativen Einwürfe und Vorschläge der Bauherrschaft feinfühlig umgesetzt hat. Ein Haus mit Einflüssen verschiedener Stationen im Leben der beiden sollte es werden. Ein Welt-Haus. Jede Einzigartigkeit lässt sich so einfach erklären. Das «fliegende Dach» erinnert an Zeiten in Hongkong und Japan, die spitzbogigen Eingänge und geschweiften Lukarnen an die Lebensjahre in Indien, die runden Bullaugen an die Reisen auf dem Schiff. «Wir wollten möglichst viel Licht im Hause haben», so Andrea, «wie im Wintergarten unseres Hauses in Argentinien sollte es sich anfühlen.» Dass wir längst im Wintergarten sassen, war mir bis dahin gar nicht aufgefallen. Die nahtlose Integration in der Planung lässt, ausser der uneingeschränkten Aussicht und dem vielen Licht, in keiner Weise das sonst oft sterile Wintergarten-Feeling aufkommen. Aber auch der Innenausbau der selbst bewohnten Etage und deren Einrichtung zeugen von Freigeistern und Weltbürgern als Bauherren. Der Schrank ist aus Brasilien, die innenseitige Backsteinmauer erinnert an London und New York, der hängende Holzgrill an Argentinien. Und im Zentrum, wie könnte es bei einem leidenschaftlichen Wirtspaar wohl anders sein, steht ein wuchtiger, in Stahl gekleideter Küchenblock mit grossen roten Dreharmaturen zur Steuerung des Herdes. «Solch elektronisch-digitales Tastwerk kann man eh nicht gebrauchen», sagt Max bestimmt. Einen Fernseher sucht man vergebens, was beim Anblick des Panoramas verständlich ist. Dafür steht die wohl beste Studer-Revox-Stereoanlage im Wohnzimmer, ein Relikt aus der Zeit, als Max als deren Manager tätig war. So hat jedes Detail seine Geschichte.


Die Küche auch privat im Zentrum –  grösser und weniger hektisch als in der «la baracca».Musse und Kunst treffen sich in der  gemütlichen Lese- und Wohnecke.

Weitsichtig geplant – elegant umgesetzt

Die Parzelle liess es zu, den Neubau rund acht Meter weiter talwärts vom ursprünglichen Standort des abgerissenen Gebäudes zu erstellen, was der ohnehin schon unglaublichen Aussicht zusätzlich Rechnung trug. Zudem wurde das neue Haus ganz nach Süden ausgerichtet. Sehr intelligent und variabel nutzbar wurden auch die fünf Wohneinheiten konzipiert. Nebst einer in die Dachschräge gebauten 3,5-Zimmer-Wohnung im Dach­geschoss, einer grosszügigen 4,5-Zimmer-Wohnung im zweiten Obergeschoss und zwei identischen, im Grundriss gespiegelten 3,5-Zimmer-Wohnungen im ersten Obergeschoss wurde das ganze Erdgeschoss für den Eigenbedarf geplant und bietet zusätzlich zur selbst bewohnten Wohnung Platz für das eigene Ge­werbe. Die Tiefgarage beherbergt die Technik, Keller- und Abstellräume sowie ausreichend Parkplätze für alle Hausbewohner. Das Haus überrascht mit seiner inneren Grösse, denn die äussere Erscheinung wirkt dank der lebendigen, vertikal ausgerichteten Bretterfassade, dem geschweiften Dach, den herausgestülpten, üppigen Fenster- und Türeinfassungen aus Aluminium-Blech und dem dreiseitig verglasten Wintergarten elegant, wohl proportioniert und alles andere als gross.


Keine Container, dafür ein Refugium im Fels

Dass die recht unkonventionelle Gestaltung des Hauses keinerlei Einsprachen verursachte und vom Bauamt St. Moritz problemlos bewilligt wurde, erstaunt. Doch spätestens nach der Realisation der «Chesa Futura», dem organischen Rundbau von Lord Norman Foster ist in St.  Moritz vieles, aber trotzdem nicht alles möglich. Ursprünglich wollte die Bauherrschaft ein Container-Haus aus neben- und übereinander gestapelten Seefracht-Containern. Ein solcher Bau war aber im Rahmen der geltenden Bauvorschriften nicht realisierbar, und die Idee wurde bald verworfen. Aber nicht ganz: Ein weiter unten in den Hang gebauter, vom Haus losge­löster autonomer Raum konnte realisiert werden und erinnert entfernt an einen Container. Der auf zwei Seiten offene und verglaste Beton-Bau eröffnet ein unglaubliches Raumgefühl. Zum einen sieht man ins Tal, zum anderen in die herausgebrochene Felstaverne. Von Bunker oder Container ist aufgrund der Aussicht und Lage aber nichts zu spüren. Ein spartanischer Raum mit viel Platz für Kreativität. Ein Refugium zum Verweilen, Ruhen oder einfach Sein. Segantini würde hier gerne malen, denke ich mir.


Tiefparterre der besonderen Art:  das in den Fels gebaute Refugium

Die Eigentümer und ihr Haus


Max und Andrea Schneider sind beide im Engadin auf­gewachsen. Nach einem bewegten Berufsleben mit Stationen auf der ganzen Welt betreiben sie seit 2003 erfolgreich das Restaurant «la baracca» in St. Moritz-Bad. Das von Architekt Roland Hinzer aus Champfèr gestaltete Mehrfamilienhaus wurde im Massivbau Backstein und Beton erstellt. Die hinterlüftete Holzfassade, mit einer Isolation von 24 cm und einem geringen U-Wert, wurde mit stehenden Brettern als Plus-/Minus-Schalung angebracht. Das Wohnhaus wurde mit den sichtbaren Materialien Holz, Blech und Glas harmonisch in die Umgebung eingebettet. Auch im Inneren wurde auf eine einfache Materialbeschaffenheit geachtet. Dies wurde für die Holzeinbauten mit Arve und für die Wände und Decken mit einem Gipsglattputz erreicht. Zur Wärmegewinnung wurde eine Wärmepumpe mit Erdsondenbohrungen verwendet. Die Wärmeverteilung erfolgt mittels Fussbodenheizung. Das Mehrfamilienhaus erreicht den Energiewert Minergie-Standard.


Max SchneiderAndrea Schneider