Abos!

EIN STALL VERFÄLLT, WENN ER NICHT MEHR GENUTZT WIRD.

Christian Wagner, Professor für Architektur an der HTW in Chur, hat sich mit der Umnutzung von leeren Ställen beschäftigt und schlägt eine innovative Lösung vor.

Text: Marco Guetg  
Bilder: HTW Chur

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Was tun mit leeren Ställen? Abrechen, umnutzen oder verfallen lassen? Ein neuer Denkanstoss kommt von der HTW in Chur. Dort hat der Architekturprofessor Christian Wagner mit einem Team ein multifunktional verwendbares Modul für die Umnutzung von Stall­brachen entwickelt. Ein Blick in seine Werkstatt.

Wenn er Ruhe sucht, zieht sich Christian Wagner, Dipl. Arch. ETH/SIA und seit 1991 Professor an der HTW in Chur, in sein Büro zurück. Dort im Hauptgebäude der HTW an der Pulvermühlestrasse 57, Raum 1.13, denkt er über werdende Bauten nach oder setzt Marksteine im Bereich Ortsbildentwicklung und Siedlungsplanung – mit Erfolg, wie wir spätestens seit 2010 wissen, als die Gemeinde Fläsch für seine Ortsplanung mit dem Wakkerpreis des Schweizerischen Heimatschutzes geadelt wurde. Wagners Wort wurde seither auch aussderhalb von Fläsch gehört – zuerst in Felsberg und Haldenstein, aktuell in Scharans, Vättis, Flums. Weitere Gemeinden werden folgen.

Christian Wagner (54) empfängt den Besucher nicht an seinem Rückzugsort im HTW-Hauptgebäude, sondern bittet ihn ins nahe, hochschuleigene Atelier. In diesem flachen, einstigen Industriegebäude wird gelehrt und gezeichnet, hier fräsen und formen Modellschreiner Entwürfe in eine dreidimensionale Form. Hier lagern aber auch – und das ist der Grund, weshalb Christian Wagner den Besucher ins Atelier gelockt hat – Module, die der Stall-Sinnfrage neue Impulse geben könnten. Denn einmal perfektioniert, wären diese Prototypen eine Antwort auf die alte Frage nach der Zukunft der Stallbrachen in den Bündner Dörfern. Wie es dazu kam und wie sie eingesetzt werden können? Wir sitzen an einem Tisch. Darauf ein Laptop. Christian Wagner gibt Auskunft.

 

Herr Wagner, das Thema «leerer Stall» scheint virulent. Die 2010 im «Weissen Haus» in Flims eröffnete Ausstellung «Der nicht mehr gebrauchte Stall» reiste in den vergangenen Jahren an mehrere Orten im Alpenraum . . .


. . . ohne dass sich in der Zwischenzeit viel getan hätte.

Dabei wäre es doch so einfach: Man baut sie aus.

So einfach ist es gerade nicht! Wenn es um das Ortsbild geht, reden oft die Denkmalpflege, der Heimatschutz, das Amt für Raumentwicklung, die Feuerpolizei und andere mit. Dazu kommt, dass diese Ställe einst kalte und gut belüftete Lagerräume waren, die man nicht einfach mit irgendeiner anderen Funktion füllen kann, ohne deren Charakter zu zerstören. Eine wichtige Rolle spielen auch die Kosten. Von diesen Prämissen liessen wir uns bei unserem Projekt leiten.

Und was ist konkret entstanden?

Die Ausgangslage ist banal: Wir stellen etwas in die Ställe, ohne deren Hülle zu zerstören. Damit schaffen wir eine neue, aber jederzeit reversible Funktion, ohne dass das Ortsbild beeinflusst wird.

Und wer gestaltet dieses Innenleben? Ein Architekt?

Eben nicht! Das widerspräche dem Charakter dieser Gebäude. Diese einst reinen Zweckbauten wurden sicherlich ohne Architekt gebaut. Das soll so bleiben. Denn sobald man in Rundhölzer Fenster fräst, geht die Struktur des Gebäudes kaputt. Unsere Überlegung war: Wir stellen etwas in den Stall, das von keinem Architekten entworfen werden muss, maximal von zwei Personen an den Ort getragen und aufgebaut werden kann. Es entstand eine Art «IKEA-Modul», das man für die verschiedensten Funktionen schichten kann: zum Wohn- oder Arbeitsraum, zu Werkstatt, zum Lager.


Der Besucher hört und staunt und fragt: Ein «IKEA-Modul»? Das heisst: Der neue Raum im Stall wird via Katalog bestellt? Christian Wagner dreht seinen Laptop. Auf dem Bildschirm erscheint ein mit Musik unterlegter Film, der schematisch zeigt, wie dieses «IKEA-Modul» funktioniert. Ausgehend von einer voraus programmierten Fläche und Höhe, klickt der künftige Stallnutzer hier auf ein Boden- und dort auf ein Seitenmodul. Er definiert, wo es gedämmte Elemente braucht und wo nicht, setzt gezielt Funk­tionsboxen und bestimmt damit, wo Küche und Bad zu stehen kommen. Gelegentlich wirft er einen Blick auf den Schnitt und schaut, wie sich die Details zu einem Ganzen fügen. Mit jedem Klick schichten sich Würfel zu Wänden. Nach und nach entsteht eine virtuelle Box im Stall. Am Schluss gehts zur Kasse. Christian Wagners letzter Klick offenbart: Unser Beispiel kostet 57 000 Franken. Der Besucher schaut und staunt und fragt:

Herr Wagner, eine Box in einem Stall? Das wird ein düsterer Ort.

Überhaupt nicht! Die Zwischenräume der Balken lassen viel Licht durch, und oft haben Ställe einen oder gar zwei grosse Tore, die offen gelassen würden.

Boxen am Computer per Mausklick zu schichten sieht reizend aus. Funktioniert das auch real in einem Stall?

Ja, sofern man nur auf die Nutzung blickt. Momentan haben wir mindestens fünf und im 1:1-Modell funktionierende Ansätze. Doch ich gebe zu: Unser Projekt hat noch einige ungelöste Knacknüsse. Die wichtigsten betreffen handfeste Rahmenbedingungen wie Baupolizei, Bauphysik oder das konkrete Handling. Wir haben die Holzboxen schon mehrmals montiert. Dabei haben sich die Nahtstellen stark abgenutzt. In einem weiteren Schritt müsste somit geklärt werden, wie dieses entscheidende Konstruktionsdetail verstärkt werden könnte.

Was muss geschehen, dass auch diese Fragen gelöst werden können?

Wir würden gerne einen «lebensgrossen» Prototyp in einem Stall bauen, an dem wir diese wichtigen Details dann studieren und ausprobieren können. Wir würden ihn gerne so weit entwickeln, dass er für eine Firma oder ein Startup-Unternehmen eine Option wird.

Ihr Projekt hat ein Handicap. Nach der Annahme der Zweitwohnung-Initiative wird die Stallnutzung stark eingeschränkt.

Das befürchtete ich anfänglich auch. Inzwischen aber bin ich überzeugt, dass darin ein riesiges Potenzial steckt – gerade weil unser Projekt sich nicht nur auf Wohnraum fokussiert, sondern die vielfältigsten Nutzungen ermöglicht.


Leer stehende Ställe mit ersten Zeichen der Umnutzung im Siedlungsgefüge von Schlans.Studierende der HTW Chur bauen den Prototyp eines Moduls zusammen.

Und wieder erfolgt Anschauungsunterricht. Christian Wagner führt den Besucher hin zu den Modell-Modulen. Eines ist quadratisch, eines ist länglich und nimmt das Thema der alten Ställe aus geschichteten Balken auf. Beim dritten Modul schliesslich werden die Elemente durch Schnallen zusammengehalten. Es ist das sichtbar komplizierteste Teil dieser Versuchsmodule. Christian Wagner ist der Vater dieser Modul-Idee, geboren nach Diskus­sionen mit den Wirtschaftspartnern aus dem Immoblien-Sektor. Der Rest wurde in einem HTW-Team weiter entwickelt und schliesslich in eine Architekturklasse getragen. Zwölf Studentinnen und Studenten tüftelten und präsentierten verschiedene Prototypen, testeten sie, checkten und verwarfen, bis in der Schlusskritik drei Ansätze für die Weiterbearbeitung übrig blieben. Beim Bau und der Evaluation der Holzteile war auch ein Zimmermann involviert.

Ein Projekt denkt sich in die Zukunft. Und jetzt? Was, Herr Wagner, muss jetzt geschehen, um einen Schritt weiter zu kommen?

Wir sind an dem Punkt angelangt, wo irgendjemand viel Geld in die Hand nehmen müsste und unser Projekt auf eigenes Risiko weiter entwickelt.

Träumen ist schön . . .

. . . deshalb bleiben wir ja auch auf dem Boden der Realität und werden bei der Kommission für Technologie und Innovation (KTI) 250 000 Franken beantragen. Damit könnten wir konkret eine gesamte Box in einem Stall aufbauen und unter Beteiligung der siegreichen Studierenden den ganzen Prozess bis hin zum Businessplan und eventuell Start-up Unternehmen durchspielen.

Und wenn in geschätzten zwei Jahren die  technischen Voraussetzungen wie der Businessplan stimmen: Wie kriegen Sie Ihre Modul-Idee in die Köpfe der Stallbesitzer?

Ich bin überzeugt: Wenn ein grösserer Bausatz unter 100 000 Franken zu stehen kommt – und das ist unser erklärtes Ziel – wird unser Projekt zum Selbstläufer.

Ställe würden damit umgenutzt, ohne dass sich das Dorfbild verändern würde. Nur: Den Zerfall der Ställe würde Ihr Projekt nicht verhindern.

Doch! Wer auf eine solche Modullösung setzt, hat grösstes Interesse daran, dass weder das Dach rinnt noch die Hülle Schaden nimmt. Ein Stall verfällt dann, wenn er nicht mehr genutzt wird.


Christian Wagner

Christian Wagner, 1960 in Winterthur geboren, wuchs  im St. Galler Rheintal auf und wohnt heute mit seiner Familie in Trübbach. Er studierte an der ETH Zürich Architektur und arbeitete nach dem Diplom 1984 als selbständiger Architekt, zunächst in Sargans, ab 1995 in Zürich. 1991 hielt Christian Wagner an der HTW in Chur erste Vorlesungen. Nach 15 Jahren Aufbauarbeit hat Christian Wagner 2009 sämtliche Leitungsfunktionen abgegeben und widmet sich jetzt voll und ganz der Lehr- und Forschungstätigkeit. Heute ist er Professor für Architektur und leitet den Bereich Orts­bildentwicklung und Siedlungsplanung im Studiengang Bau und Gestaltung.