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BAUEN AUS DER KOLLEKTIVEN ERINNERUNG.

Wie baut man ein Theater? Dieser Frage stellt sich Giovanni Netzer, Intendant des Origen Kulturfestivals, immer wieder aufs Neue. Jüngstes Kind aus den Schlüssen vieler seiner Überlegungen ist die zum Auf-führungsraum umgebaute, mit einem Architekturpreis prämierte Scheune «Clavadeira» in Riom.


Text: Maya Höneisen     

Bilder: Benjamin Hofer, Bowie Verschuuren

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Die gängige Vorstellung vom Theater: Die Bühne erhöht, gegenüber die Sitzreihen, der rote Vorhang, der sich öffnet für alle Bühnen-Genres, sei es Drama, Oper, Komödie, Ballett oder Schauspiel. Dieses Theater funktioniert in der Stadt genauso wie in der Mehrzweckhalle auf dem Land. Giovanni Netzer nennt es Guckkastentheater. Für den Intendanten des Origen Kulturfestivals ist solches durchaus möglich, aber – für ihn stellen sich die Fragen anders. Auf der Suche nach Antworten greifen seine Überlegungen weiter. «Es braucht ein Zusammenfinden verschiedener, miteinander wirkender Komponenten, damit Theater funktioniert», sagt er.


Magie des Ortes

Man muss etwas zurückgreifen, um zu verstehen. Nach seinen Studienjahren in München kehrte Giovanni Netzer nach Savognin zurück, um das erste rätoromanische Theater zu gründen. Besonders wichtig war ihm dabei schon damals die Integration der Region und ihrer Menschen. «Wir brauchen nicht das, was die grossen Städte schon haben, sondern müssen mit dem arbeiten, was die Region vorgibt, und das sind hier auf dem Land ganz andere, ganz spezielle Kräfte», erklärte er einmal in einem Interview. Kompromisslos bespielt der Theater­wissenschaftler, Theo­loge und Kunst­geschichtler seither den Natur- und Dorfraum und bezieht die Magie dieser Räume ins jeweilige Thema und die Architektur seiner Bauten mit ein. Mit Gerüststrukturen und textiler Bespannung baute er offene, archaische Bautypen an den unwirtlichsten Orten, wie etwa auf dem Marmorera-Staudamm oder auf dem Julierpass. Diese Räume provozieren für ihn andere, essentiellere Fragen nach Sein und Werden als in der Stadt. Wind und Wetter stellen Publikum und Schauspieler auf die Probe und bestimmen das Spiel, welches sich so aus dem Ort heraus entwickelt. Die Bauten sind flüchtige, temporäre Architekturen, die wieder zurückgebaut werden.


In temporären Bauten wie etwa auf dem Marmorera-Staudamm werden Wind und Wetter zu Mitspielern in Giovanni Netzers Aufführungen.

Mensch, Ort und Theater

Anders in Riom, dem Sitz des Origen Festivals. Oder doch nicht so anders? Der Ansatz, die Menschen im Ort, den Ort und das Theater zusammenzuführen, blieb auch beim Umbau der Scheune des Anwesens Sontga Crousch derselbe. Ursprünglich wurde das herrschaftliche Anwesen, zu welchem Haupthaus und Scheune gehören, von Lurintg Carisch gebaut. Carisch wanderte im 19. Jahrhundert nach Paris aus. Mit noblen Restaurants und teuren Liegenschaften erwirtschaftete er ein Vermögen. Mit dem Geld kehrte er nach Riom zurück, wo er die Sommerresidenz für seine Familie errichtete. Nach seinem Tod wurden Haus und Hof zum Feriendomizil der Menzinger Schwestern. Im Jahr 2011 verkauften sie es an das Kulturfestival.

Die Scheune als Spielstätte

Die schon im Jahr 2005 zum Theater ausgebaute Burg Riom und die temporären Bauten erlaubten Origen den Spielbetrieb im Sommer. Mit Sontga Crousch eröffnete sich die Möglichkeit zum Ganzjahrestheater. Beim Intendanten entstanden erste Gedanken zu einem Umbau: «Diese Scheune mit ihrer Atmosphäre, ihrem speziellen, durch die Holzdekorationen einfallenden Licht und ihren Symmetrien könnte ein Theater sein.» Das erste Projekt aus diesen Gedanken verfügte zwar über alle Funktionen eines Theaters, gerade aber die spezifische
Atmosphäre, von welcher der Raum lebt, war damit nicht zu erhalten. Giovanni Netzer suchte nach einer subtileren Vorgehensweise zum Umbau, engagierte Carmen Gasser und Remo Derungs von Gasser Derungs Architekten und bildete eine Baukommission. Das Team traf zwei Grundsatzentscheidungen: Zum einen sollten die beiden in der Scheune eingebauten Ställe und die darin liegenden Zwischenböden entfernt werden, um damit einen einzigen grossen Raum zu schaffen. Zum anderen sollte der Durchgang von der ehemaligen Scheune in den Pferdestall belassen und über diesem – verbunden mit einer Treppe – ein neuer Zwischenboden eingezogen werden. Entstanden sind ein zentraler Theaterraum, ein Foyer und darüber liegend ein weiterer Raum für kleinere Veranstaltungen – die ganzjährig bespielbare «Clavadeira».

Nichts tun, was zerstören könnte

Ganz wichtig war es Giovanni Netzer, für den Umbau aus der kollektiven Erinnerung des Dorfes heraus eine reduzierte Sprache zu finden. «Die Scheune soll nicht die Echtheit von damals darstellen, sondern ein Gefäss sein, um Geschichten zu erzählen», sagt er. Dies in einer spezifisch theatralischen Form, in welcher sich Zuschauer und Schauspieler vermischen. Diese sanfte Transformation einer bäuerlichen Struktur in eine kulturelle zu führen, die wiederum vom Ort inspiriert ist, hiess auch: Möglichst nichts zu tun, was die Raumstimmung hätte zerstören können. So wurde das alte Mauerwerk, welches über die Jahrzehnte eine eigene Patina angesetzt hatte, belassen, ebenso der Flusskieselboden im Foyer. Die Holzlamellen wurden mit einer Aussenverglasung versehen, um im Innenraum die Licht- und die akustische Qualität zu erhalten. Damit das Theater auch im Winter bespielbar ist, wurde eine Fussbodenheizung eingezogen sowie das Dach neu isoliert. Im Saal selbst wurden 210 Sitze auf drei Bankstufen um eine quadratische Spielfläche eingebaut. «Was die Scheune ausgemacht hat, konnten wir erhalten, respektive verstärken. Der Theaterraum hat eine ganz eigene Magie erhalten», sagt Giovanni Netzer nach der ersten Winterspielzeit. Inzwischen wurde das Wintertheater innerhalb der Vergabe des «Award Marketing & Architektur 2016» als eines von sieben Objekten in der ganzen Schweiz mit einem Kategorienpreis prämiert. Weitergehen soll es in Sontga Crousch nun mit der Restaurierung der Flusskieselpflästerung im Hof des Anwesens, die während der Bauarbeiten unverhofft gefunden wurde. Sie soll wiederhergestellt werden. 


Die bäuerlichen Strukturen der Scheune blieben im grossen Theaterraum erhalten.  Möglichst nichts tun, was zerstören könnte, war das Credo beim Umbau der Scheune zum Theater «Clavadeira».

Flexibles Kulturzentrum auf dem Julierpass

Zurück zu den temporären Bauten. Anfang dieses Jahres stellte Giovanni Netzer ein weiteres, über fünf Jahre dauerndes Projekt auf dem Julierpass vor. Da stellt sich eine nächste Frage. Wurde bislang mit den Bauten ein Bühnenbild für ein Thema umgesetzt, gilt es jetzt, eines zu finden, welches für wechselnde Themen bespielbar ist, offen genug für Konzerte, Theater- und Tanzaufführungen. Das heisst, ein möglichst flexibles, semi-temporäres Kulturzentrum. Gleichzeitig soll es wie immer den Ort transportieren, welchem Giovanni Netzer Ewigkeit, Unverrückbarkeit und die Vergänglichkeit in der Ewigkeit zuschreibt. «Auch in diesem Bau muss der Bezug zur Aussenwelt möglich bleiben, er muss eine eigene Geschichte erzählen und einen eigenen Charakter haben, der nun mit verschiedenen Themen verbunden werden kann», sagt er. So zeigt denn der erste Entwurf des Theaterhauses einen oktogonalen Baukörper mit acht Türmen, in welchem das Sonnenlicht den Raum gestaltet. Origens Intendant bleibt auch hier dem eingangs erwähnten Grundsatz treu: «Es braucht ein Zusammenfinden verschiedener, miteinander wirkender Komponenten, damit Theater funktioniert.»

 

«Clavadeira gewinnt Architekturaward»

Zum fünften Mal wurde im April 2016 der «Award für Marketing und Architektur» vergeben. In der Sparte «Publikums-Bauten, Sportanlagen, Spitäler, Bahnhöfe, Schulhäuser, Parkanlagen, Kulturbauten» wurde die zum Theater ausgebaute Scheune «Clavadeira» mit dem ersten Preis ausgezeichnet. «Mit den Theaterräumen erhielt das Festival erstmals eine ganzjährig bespielbare Infrastruktur. Realisiert wurde eine Stätte für Kultur der besonderen Art. Ein grosszügiger neuer, aber historischer Raum für Theater, Konzerte, Tanz, Proben und Anlässe. Die subtilen Umbauten in Sontga Crousch wollen vor allem eines: Die einmalige Atmosphäre des Anwesens erhalten, freilegen, künstlerisch nutzen», erläuterte die Jury in ihrer Laudatio.


Informationen zu Origen und zum Sommerprogramm 2016: www.origen.ch


Der projektierte oktogonale Baukörper mit acht Türmen auf dem Julierpass soll während fünf Jahren für wechselnde Themen bespielbar sein.Für Giovanni Netzer braucht es ein Zusammenfinden verschiedener,  miteinander wirkender Komponenten, damit Theater funktioniert.