Abos!

KATHEDRALE DER TECHNIK.

Die Bahn, die sie erschliesst, ist neu und die Talstation von 2016 ein ausgezeichnetes Beispiel der Seil­bahnarchitektur, geplant von Alder, Clavuot, Nunzi Architekten GmbH ETH SIA als adäquates Gesicht der Elektrizitätswerke. Die Albigna-Staumauer, erbaut von 1955 bis 1959 vom Elektrizitätswerk der Stadt Zürich (ewz), bietet einen einmaligen Rundgang durch die Welt der Elektrizität – als ein aussen schlichtes, innen aber spannendes Beispiel einer Talsperre.


Text: Fridolin Jakober

Bilder: Alice Das Neves

Zurück zur Übersicht

Wer in Pranzaira im Bergell in die neue Kabine der ewz-Luftseilbahn zum Albigna-Stausee steigt, erblickt die «Fiamma» aus Granit, die wie eine Kerze gegen den Himmel ragt. Über den Lärchen schwebt man 900 Meter hinauf, lässt den Blick übers Bergell schweifen, während die Talsohle im Dunst bläulich schimmert, und plötzlich tut sich unter einem eine 180 Meter hohe Kluft auf, ein gähnender Schlund. Erst dann sieht man die mächtige Gewichtsstaumauer – ein breit gestrecktes Bauwerk, das leicht nach vorne auskragt, ein schlichtes Meisterwerk moderner Betonbaukunst. Wer durch die Bergstation in die Staumauer tritt, sieht seine Vermutung bestätigt: Zwischen den 42 Blöcken, die jeweils 15 Meter breit sind, öffnen sich fünf Meter breite Nischen, die wie die Joche einer mächtigen Kathedrale bis zu 80 Meter in die Höhe steigen. Sie sind mit sieben horizontal verlaufenden Quergängen verbunden, wer durch die Mauer hinunter bis zu ihrem Grundablass und wieder hinauf will, hat über 1200 Treppenstufen zu überwinden. Ein Fitnessprogramm der besonderen Art.

Ein ewig kühles Reich

Denn es ist feucht hier drin und kalt – im Sommer höchstens sechs Grad, im Winter vier. Durch Rinnen tropft Sickerwasser, das an vier Stellen in der Mauer gesammelt wird – es sind Quellen, die – einem Taufbrunnen gleich – aus der Mauer entspringen und die, je nach Füllstand des Sees, zwischen 1 und 5 Sekundenlitern Wasser hergeben. An den Wänden haben sich im Laufe der Jahre mancherorts Stalaktiten gebildet. Wenn das Licht einer Lampe auf sie trifft, leuchten sie auf wie geheimnisvolle Ikonen – abstrakte Bilder, geschaffen aus Wasser und Kalk, der ausgewaschen wird. Wie ein riesiges Lebewesen bewegt sich die Mauer selbst unter der Last des Wassers und auch der Fels unter ihr macht – je nach Wasserlast – Bewegungen. Diese werden mit Fels-Loten in den Lot-Fugen 10, 13, 16, 20, 25 und 28 gemessen, während Pendel die Bewegung der Mauer nachzeichnen. Eines der Pendel, jenes am Fuss der Mauer beim Grundablass, ist elektrisch, alle anderen werden in regelmässigen Abständen von Hand abgelesen.


Auf über 1200 Stufen gehts durch die Mauer.In den Gängen herrschen konstant vier bis sechs Grad Celsius.Fels-Lote messen die Mauerbewegung.

Die Wärter

Herren über diese Kathedrale sind die Stauwärter – derzeit sind es drei Männer, die diesem seltsamen Orden angehören. Oft leben sie hier oben, im Wärterhäuschen, in fast mönchischer Abgeschiedenheit, und kontrollieren und unterhalten das monumentale Bauwerk der Staumauer. Einer von ihnen ist Dario Rogan­tini. Seit mittlerweile 16 Jahren führt er einmal wöchentlich alle nötigen Messungen an der Mauer durch. Manchmal liegt der Schnee dabei meterhoch, manchmal ist es – wie jetzt – noch Ende Oktober warm und trocken. «Im Rahmen von Arte Albigna gab es letztes Jahr in Hohlraum 25 ein Orchesterkonzert. Schon als wir hier in den ersten Hohlraum traten, hörte man leise die Musik. 300 Meter führte die Prozession über die Treppen in der Mauer, immer wieder hielt man an – lauschte – und ging weiter auf die Musik zu.» Jetzt gerade ist es still – bis auf das leise Plätschern des Sickerwassers. Doch sobald jemand – auch nur halblaut – zu sprechen ansetzt, wird der Laut in der hohen Nische verstärkt und hallt über zehn Sekunden nach. Tatsächlich führt das dazu, dass man in dieser Kathedrale sein eigenes Wort nicht mehr versteht, denn sich – auch nur über 20 Meter – etwas zuzurufen, ist unmöglich.


Dario Rogantini, Stauwart.Dario Rogantini, Stauwart. Mönchisch abgeschieden: das Wärterhaus.

Vorstellungsvermögen gefragt

Für manches fehlt einem hier schlicht die Vorstellungkraft. Zum Beispiel dafür, dass die 926 000 Kubikmeter Beton der Gewichtsstaumauer einfach auf dem Granitfels stehen. Mit ihrem im Prinzip dreieckigen Querschnitt und ihren etwa 2,12 Millionen Tonnen Material hält diese Talsperre schlicht durch ihr Gewicht die 70 Millionen Kubikmeter Wasser davon ab, ins Tal zu fliessen. Noch heute ist das eine der wichtigen Funktionen der Mauer bei Hochwasser. Nachdem 1927 ein Hochwasser das Bergell ver­wüstet hatte, baute man von 1930 bis 1932 hier oben eine Rückhaltesperre. Diese alte Sperre wird von der neuen Mauer umfangen – ganz unten, beim Grundablass, kann man einen Teil davon noch sehen. Zwergenhaft wirken diese alten Mauern, sie verschwinden in den gewaltigen Dimensionen des Raums, der sie umgibt. Wer an einem der zehn Rocmeter vorbeikommt, erfährt, dass damit die Millimeterbewegungen der Klüfte hinter der Staumauer gemessen werden. Denn der enorme Wasserdruck führte dazu, dass sich am Mauerfuss auf der Seeseite im Gestein Klüfte öffneten, wo Wasser eindrang, was wiederum die Auftriebskräfte im Fels erhöhte. Also musste man diese Klüfte abdichten und mit Bohrungen entlasten. Auch auf die Betontemperatur wird geachtet. Während der Bauzeit wurden 124 Thermometer fest installiert. Noch heute wird die Mauertemperatur an einer Stelle kontinuierlich erfasst. Denn auch Temperaturveränderungen bewirken geringe, aber messbare Veränderungen in der Staumauer. Fast hundert Meter geht es wieder hinauf und durch den obersten der Quergänge zurück. In der Mitte der Mauer, wo sich unter den Füssen eine düstere, endlos scheinende Kaverne öffnet, ist auch ein Tor nach aussen. Es muss geöffnet sein, wenn im Grundablass der See abfliesst. Sonst würde das hinausschiessende Wasser hier ein gewaltiges Vakuum erzeugen – wer hier hinausschaut sieht wie in einem Oberlicht, ein Stück Bergell ins Dunkle scheinen.

Fast irreal wirkt diese Landschaft, wenn man – nach dem Rundgang – wieder ins Freie tritt und auf den See, die nackten Felswände, den Gletscher oder ins Tal hinunterschaut. Klein geworden unter dem riesigen Himmel fühlt man die Kräfte von Wetter und Welt und sehnt sich zurück in den Kathedralenbauch der Mauer.


Die 420 Meter lange Krone der Gewichtsstaumauer, auf dem Grat die Capanna da l'Albigna.Das zentrale Tor zur Belüftung.