Larissa Cavegn, Sie hätten Akustikerin werden und die Firma Ihres Vater übernehmen sollen. Jetzt sind sie Architektin. Wie kam es dazu?
Eher zufällig – oder doch nicht? Ursprünglich wollte ich in Stuttgart Bauphysik studieren. Das aber konnte ich nicht, weil Stuttgart meine Berufsmatura nicht anerkannte. Meine zweite Wahl war schliesslich ein Architekturstudium an der HTW in Chur, weil ich wusste, dass dort die technische Seite des Bauens grosses Gewicht hat.
Das finde ich interessant! Sie suchten die Bauphysik und entdeckten den Entwurf. Wissen Sie noch, wann Ihr Interesse gekippt ist?
«Schuld» daran trägt mein damaliger Dozent und heutiger Arbeitgeber Robert Albertin. Er bot mir im vierten Semester an, mit seinem Team an einem Wettbewerb für ein Wellness-Hostel in Laax/Falera mitzuarbeiten – einerseits, weil er jemanden im Büro brauchte, der sich in der 3D-Modellierungstechnik auskannte, andererseits aber hatte Robert Albertin in mir offensichtlich auch ein Potenzial gesehen, das mir selbst noch gar nicht bewusst war. Während dieser Beschäftigung öffnete sich mir über den Dialog mit Robert Albertin eine neue Seite der Architektur: Ich lernte die «Sprache der Architektur». Mir ging ein Licht auf. Plötzlich verstand ich, worum es in der Architektur geht, setzte mich mit den Arbeiten anderer Architekten auseinander und weitete meinen Horizont. So trat die Bauphysik mehr und mehr in den Hinter- und der Entwurf in den Vordergrund.
Was interessierte Sie dabei primär: die Aspekte des Neubaus oder Umbaus oder vorwiegend städtebauliche Fragen?
Vorerst dachte ich noch sehr konstruktionslastig. Nur: Das architektonische Grundwissen hat man sich relativ schnell erarbeitet. Wichtig ist, was man damit macht – kontextuell, historisch wie städtebaulich. Ein Architekt braucht mehr als nur ein fundiertes technisches Basiswissen; er muss Räume lesen können, muss sehen, wie man in Räumen bauen kann, damit ein Bau schliesslich auch die geplante Wirkung hat.
Eine Wirkung erzielten Sie 2018 mit Ihrem Bachelor-Diplom, in dem Sie einen Stall beim Schloss Fürstenau in ein Weingut umbauten. Diese Arbeit hat Ihnen nicht nur den SIA-Preis für «hervorragende studentische Leistungen» eingebracht, sondern 2019 zusätzlich eine Auszeichnung durch die Fachgruppe für die Erhaltung von Bauwerken der SIA. Hatten Sie diesen Stall eigentlich selbst für Ihre Diplomobjekt auswählen können?
Nein, er wurde uns Diplomierenden zugewiesen. Jeder durfte damit machen, was er wollte.
Sie hätten ihn auch abbrechen und durch einen Neubau ersetzen können. Weshalb haben Sie sich für einen Umbau entschieden?
Aus Respekt vor diesem Objekt an diesem Ort. Ich fände es vermessen, ein Gebäude zu zerstören, nur weil es nicht meinen Vorstellungen entspricht. Dieser Stall steht ja nicht zufällig dort. Dass er in dieser Form an diesem Ort steht, hat seinen Grund. Diesen wollte ich respektieren.
Erinnern Sie sich noch, wie sich die Bilder zu Ihrem Entwurf allmählich verfestigt haben?
Sehr genau sogar. Ich besichtigte den Ort, lief hoch zum Städtchen Fürstenau, sah das Schloss und auf seinem Areal den Stall mit seinen auffallenden Eckpfeilern. Ich lief auf meiner Besichtigungstour weiter, gelangte vor eine relativ hohe Mauer, blickte über die Krone – und was sah ich? Reben! Über meine ortskundige Begleitung erfuhr ich, dass der Weinbau in Fürstenau eine lange Tradition habe, inzwischen aber eher vernachlässigt worden sei. Von diesem Augenblick an war für mich klar: Ich will über die Architektur die verschwundene Nutzung wieder beleben und mache aus dem Stall ein Weingut.
Mussten Sie stark in die Substanz eingreifen?
Unterschiedlich. Den Dachstuhl, die Decken und die Eckpfeiler habe ich unverändert integriert. Geblieben ist auch die Struktur des Erdgeschosses. Aber ich habe mit neuen Elementen gearbeitet, Backsteine verwendet und ein Gewölbe in den Raum gebaut. Abgebrochen wurde ein Nebengebäude, weil es für den Gesamtbau einen nur marginalen Wert besass.
Was auffällt: Nur ein Jahr nach Ihrer Diplomarbeit sind Sie wieder auf den Stall gekommen. 2019 haben Sie an einem Ideenwettbewerb teilgenommen, um den Bündner Wanderwegen neue Impulse zu verleihen. Mit Ihrem prämierten Beitrag «Stallgeflüster» stellen Sie ungenutzte Ställe ausserhalb der Bauzone in den Mittelpunkt.
Das Thema dieses kantonalen Förderprojektes für den Wandertourismus war: Wie kann man Wanderwege neu inszenieren? Der Entwurf stammt von der Landschaftsarchitektin Janina Studer und mir. Robert Albertin stand uns als Berater bei. Wir hatten nie den Anspruch, eine definitive Lösung für Wanderwege vorzuschlagen, geschweige denn eine, die für ganz Graubünden gilt. Wir wollten einfach einen für Graubünden praktikablen Weg aufzeigen. Dabei sind wir auf die leeren Ställe gestossen und haben sie in unser Wanderwegkonzept namens «Stallgeflüster» integriert.
Verraten Sie bitte, was leere Ställe mit Wanderwegen zu tun haben?
Nicht viel – aber gerade das ist der Reiz! Es gibt Wanderwege, die an Ställen vorbeiführen, andere wiederum sind weit davon entfernt. Jedes Gebäude ist auf seine Weise ein Solitär in der Natur, drückt auf seine Weise aus, was es dort «macht». Wir kombinieren nun das Ganze und versuchen, dem einzelnen Stall mit Blick auf die Wanderwelt einen neuen Nutzen zu geben. Der Stall wird so zu einem Gefäss für Interventionen. Hier entsteht ein Stallkiosk, in dem der Wanderer etwas kaufen kann, dort ein Poesiestall, in dem Besucher einen Zettel beschreiben, ihn an den Dachbalken befestigen können und sich der Raum so nach und nach mit Wörtern, Sätzen und Gedanken füllt. Ein Stall in unserem Kontext muss aber nicht zwingend etwas «sein». Er kann durchaus auch nur als schlichter Verweilraum dienen. Nur als Wohnraum sehen wir diese leeren Ställe nicht.
Gibt es inzwischen auch Träger, die Ihre Idee umzusetzen versuchen?
Ja, Robert Albertin, Janina Studer und ich. Wir arbeiten daran und es sieht so aus, dass wir unsere Idee im Tujetsch verwirklichen können. Die Gemeinde hat zugesagt. Nun suchen wir nach weiteren Geldgebern . . .
. . . mit dem Ziel auf grösste Breitenwirkung?
Nein, mit unserem Projekt wollen wir nicht alle leeren Ställe in Graubünden retten. Wir möchten lediglich darauf aufmerksam machen, dass ein Kulturgut zu verschwinden droht. Wenn andererseits aber unsere Idee andere Menschen zu anderen Lösungen animiert, wäre ein wichtiges Ziel unseres Pilotprojektes erreicht.