Abos!

DER ARCHITEKT MUSS RÄUME LESEN KÖNNEN.

Architektur als Kunst des Entwurfs entdeckte Larissa Cavegn (24) während ihres Studiums an der HTW in Chur. Mit einem Stallumbau in Fürstenau setzte sie dann gleich einen Akzent: Ihre Diplomarbeit wurde mit dem SIA-Preis für hervorragende studentische Leistungen ausgezeichnet. Ein Gespräch mit der jungen Architektin – in einem leeren Stall in Andeer.


Text: Marco Guetg

Bilder: Alice Das Neves

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Larissa Cavegn, Sie hätten Akustikerin werden und die Firma Ihres Vater übernehmen sollen. Jetzt sind sie Architektin. Wie kam es dazu?
Eher zufällig – oder doch nicht? Ursprünglich wollte ich in Stuttgart Bauphysik studieren. Das aber konnte ich nicht, weil Stuttgart meine Berufsmatura nicht anerkannte. Meine zweite Wahl war schliesslich ein Architekturstudium an der HTW in Chur, weil ich wusste, dass dort die technische Seite des Bauens grosses Gewicht hat.


Das finde ich interessant! Sie suchten die Bauphysik und entdeckten den Entwurf. Wissen Sie noch, wann Ihr Interesse gekippt ist?
«Schuld» daran trägt mein damaliger Dozent und heutiger Arbeitgeber Robert Albertin. Er bot mir im vierten Semester an, mit seinem Team an einem Wettbewerb für ein Wellness-Hostel in Laax/Falera mitzuarbeiten – einerseits, weil er jemanden im Büro brauchte, der sich in der 3D-Modellierungstechnik auskannte, andererseits aber hatte Robert Albertin in mir offensichtlich auch ein Potenzial gesehen, das mir selbst noch gar nicht bewusst war. Während dieser Beschäftigung öffnete sich mir über den Dialog mit Robert Albertin eine neue Seite der Architektur: Ich lernte die «Sprache der Architektur». Mir ging ein Licht auf. Plötzlich verstand ich, worum es in der Architektur geht, setzte mich mit den Arbeiten anderer Architekten auseinander und weitete meinen Horizont. So trat die Bauphysik mehr und mehr in den Hinter- und der Entwurf in den Vordergrund.


Was interessierte Sie dabei primär: die Aspekte des Neubaus oder Umbaus oder vorwiegend städtebauliche Fragen?
Vorerst dachte ich noch sehr konstruktionslastig. Nur: Das architektonische Grundwissen hat man sich relativ schnell erarbeitet. Wichtig ist, was man damit macht – kontextuell, historisch wie städtebaulich. Ein Architekt braucht mehr als nur ein fundiertes technisches Basiswissen; er muss Räume lesen können, muss sehen, wie man in Räumen bauen kann, damit ein Bau schliesslich auch die geplante Wirkung hat.


Eine Wirkung erzielten Sie 2018 mit Ihrem Bachelor-Diplom, in dem Sie einen Stall beim Schloss Fürstenau in ein Weingut umbauten. Diese Arbeit hat Ihnen nicht nur den SIA-Preis für «hervorragende studentische Leistungen» eingebracht, sondern 2019 zusätzlich eine Auszeichnung durch die Fachgruppe für die Erhaltung von Bauwerken der SIA. Hatten Sie diesen Stall eigentlich selbst für Ihre Diplomobjekt auswählen können?
Nein, er wurde uns Diplomierenden zugewiesen. Jeder durfte damit machen, was er wollte.


Sie hätten ihn auch abbrechen und durch einen Neubau ersetzen können. Weshalb haben Sie sich für einen Umbau entschieden?
Aus Respekt vor diesem Objekt an diesem Ort. Ich fände es vermessen, ein Gebäude zu zerstören, nur weil es nicht meinen Vorstellungen entspricht. Dieser Stall steht ja nicht zufällig dort. Dass er in dieser Form an diesem Ort steht, hat seinen Grund. Diesen wollte ich respektieren.


Erinnern Sie sich noch, wie sich die Bilder zu Ihrem Entwurf allmählich verfestigt haben?
Sehr genau sogar. Ich besichtigte den Ort, lief hoch zum Städtchen Fürstenau, sah das Schloss und auf seinem Areal den Stall mit seinen auffallenden Eckpfeilern. Ich lief auf meiner Besichtigungstour weiter, gelangte vor eine relativ hohe Mauer, blickte über die Krone – und was sah ich? Reben! Über meine ortskundige Begleitung erfuhr ich, dass der Weinbau in Fürstenau eine lange Tradition habe, inzwischen aber eher vernachlässigt worden sei. Von diesem Augenblick an war für mich klar: Ich will über die Architektur die verschwundene Nutzung wieder beleben und mache aus dem Stall ein Weingut.


Mussten Sie stark in die Substanz eingreifen?
Unterschiedlich. Den Dachstuhl, die Decken und die Eckpfeiler habe ich unverändert integriert. Geblieben ist auch die Struktur des Erdgeschosses. Aber ich habe mit neuen Elementen gearbeitet, Backsteine verwendet und ein Gewölbe in den Raum gebaut. Abgebrochen wurde ein Nebengebäude, weil es für den Gesamtbau einen nur marginalen Wert besass.


Was auffällt: Nur ein Jahr nach Ihrer Diplomarbeit sind Sie wieder auf den Stall gekommen. 2019 haben Sie an einem Ideenwettbewerb teilgenommen, um den Bündner Wanderwegen neue Impulse zu verleihen. Mit Ihrem prämierten Beitrag «Stallgeflüster» stellen Sie ungenutzte Ställe ausserhalb der Bauzone in den Mittelpunkt.
Das Thema dieses kantonalen Förderprojektes für den Wandertourismus war: Wie kann man Wanderwege neu inszenieren? Der Entwurf stammt von der Landschaftsarchitektin Janina Studer und mir. Robert Albertin stand uns als Berater bei. Wir hatten nie den Anspruch, eine definitive Lösung für Wanderwege vorzuschlagen, geschweige denn eine, die für ganz Graubünden gilt. Wir wollten einfach einen für Graubünden praktikablen Weg aufzeigen. Dabei sind wir auf die leeren Ställe gestossen und haben sie in unser Wanderwegkonzept namens «Stallgeflüster» integriert.


Verraten Sie bitte, was leere Ställe mit Wanderwegen zu tun haben?
Nicht viel – aber gerade das ist der Reiz! Es gibt Wanderwege, die an Ställen vorbeiführen, andere wiederum sind weit davon entfernt. Jedes Gebäude ist auf seine Weise ein Solitär in der Natur, drückt auf seine Weise aus, was es dort «macht». Wir kombinieren nun das Ganze und versuchen, dem einzelnen Stall mit Blick auf die Wanderwelt einen neuen Nutzen zu geben. Der Stall wird so zu einem Gefäss für Interventionen. Hier entsteht ein Stallkiosk, in dem der Wanderer etwas kaufen kann, dort ein Poesiestall, in dem Besucher einen Zettel beschreiben, ihn an den Dachbalken befestigen können und sich der Raum so nach und nach mit Wörtern, Sätzen und Gedanken füllt. Ein Stall in unserem Kontext muss aber nicht zwingend etwas «sein». Er kann durchaus auch nur als schlichter Verweilraum dienen. Nur als Wohnraum sehen wir diese leeren Ställe nicht.


Gibt es inzwischen auch Träger, die Ihre Idee umzusetzen versuchen?
Ja, Robert Albertin, Janina Studer und ich. Wir arbeiten daran und es sieht so aus, dass wir unsere Idee im Tujetsch verwirklichen können. Die Gemeinde hat zugesagt. Nun suchen wir nach weiteren Geldgebern . . .


. . . mit dem Ziel auf grösste Breitenwirkung?
Nein, mit unserem Projekt wollen wir nicht alle leeren Ställe in Graubünden retten. Wir möchten lediglich darauf aufmerksam machen, dass ein Kulturgut zu verschwinden droht. Wenn andererseits aber unsere Idee andere Menschen zu anderen Lösungen animiert, wäre ein wichtiges Ziel unseres Pilotprojektes erreicht.


Larissa Cavegn mit Marco Guetg in einem leeren Stall in Andeer

Unser Gespräch findet in einem leeren Stall im Dorfkern von Andeer statt. Wenn Sie hier sitzen und sich umschauen: Welche Bilder und Gedanken tauchen auf?
Ich sehe das gewaltige, das Dorfbild prägende Volumen. Dann frage ich mich: Was fand hier einst statt? Wer hat hier gearbeitet? Was könnte hier neu stattfinden? Es interessiert mich aber auch, wie die Menschen im Dorf einen solchen leeren Stall im Dorf wahrnehmen. Haben sie eine Vorstellung, was damit gemacht werden könnte. Kann man eventuell gemeinsam ein neues Projekt daraus entwickeln?


Ist alles möglich: eine touristische oder gewerbliche Umnutzung wie auch ein neuer Ort zum Wohnen?
Grundsätzlich ja, es kommt lediglich darauf an, wie es gemacht ist und dass die Geschichte des Ortes nicht missachtet wird. Unvorstellbar wäre für mich ein ausgebauter Stall als überformuliertes Chalethäuschen. Auch hätte ich grösste Mühe, einen Stall in ein modernes Haus mit modernster Technik inklusive unterirdischer Garage um- und aus­zubauen. Wer sich so etwas wünscht, sollte ehrlich sein, den Stall abbrechen und einen Neubau erstellen. Mein Grundsatz lautet: Will ein Besitzer einen Stall zum Wohnraum umnutzen, muss er seine Bedürfnisse dem Stall anpassen und nicht umgekehrt. Ein Stall bleibt immer ein Stall, der letztlich mehr Berechtigung hat als die Wünsche des neuen Besitzers.


Obwohl Sie noch jung sind und naturgemäss nicht so viele Arbeiten ausweisen können: Hat sich seit der «Entdeckung» des Entwurfs in jenem weg­weisenden vierten Semester eine bestimmte Haltung herauskristallisiert?
Dass ein Bau aus einem Bedürfnis für einen Raum entsteht und dass ich genau hinschauen muss, ob sich dieser Ort auch dazu eignet. Ich lasse mich von verschiedenen Faktoren leiten, von der direkten Inspiration am Ort, der gebauten Umgebung und somit der Frage, wie meine Vorgänger damit umgegangen sind. Dann suche ich natürlich auch nach Referenzen in der Architekturgeschichte, die bis zu Vitruv zurückreichen können.


Gibt es auch Referenzen zur neueren oder aktuellen Architektur?
Mit Blick auf die Moderne zentral sind für mich die Arbeiten von Mies van der Rohe. Unglaublich, was er zu seiner Zeit und unter jenen Bedingungen geschaffen hat! Was die zeitgenössische Architektur betrifft, stecke ich mit meinem Wohn- und Arbeitsort Chur ja mitten in einem Mekka. Umgeben von Zumthor, Rudolf und Valerio Olgiati, Hans-Jörg Ruch, Capaul & Blumenthal, Bernardo Bader, alle Arbeiten dieser Architekten haben auf irgendeine Weise einen Einfluss – und dann natürlich Robert Albertin! Ich würde ja nicht in seinem Büro arbeiten, wenn ich seine Arbeit nicht bewundern und schätzen würde . . . (lacht)


Was steht zurzeit an?
Zurzeit bin ich an der Planung zweier Mehrfamilienhäuser in Malans GR, diese fordern mich ziemlich heraus – aber auf eine schöne Weise, dann wird noch mein Herzstück wachsen: mein eigenes Haus in Rueras.

 

Wissen Sie schon, worauf Sie sich in Zukunft konzentrieren werden: eher auf Um- oder auf Neubauten?
Ich werde mich mit dem beschäftigen, was mich interessiert, ob Neu- oder Umbau, beides sind spannende Gebiete. Vor allem aber möchte ich eine Ansprechpartnerin werden für Architektur und nicht fürs Bauen.


Larissa Cavegn mit Marco Guetg in einem leeren Stall in AndeerLarissa Cavegn mit Marco Guetg in einem leeren Stall in AndeerLarissa Cavegn mit Marco Guetg in einem leeren Stall in AndeerLarissa Cavegn mit Marco Guetg in einem leeren Stall in AndeerLarissa Cavegn mit Marco Guetg in einem leeren Stall in Andeer

Larissa Cavegn wurde 1994 geboren und wuchs in Lachen SZ auf, wo sie auch zur Schule ging. Die letzten zwei Schuljahre besuchte sie das Theresianum in Ingenbohl SZ. Danach machte sie eine Lehre als Zeichnerin Fachrichtung Architektur mit Berufsmatura, die sie 2014 mit Auszeichnung abschloss. Geplant war, dass Larissa Cavegn Bauphysik studiert und danach die väterliche Akustikfirma übernimmt. Doch es kam anders. Noch während ihres Studiums an der HTW in Chur entschied sich Larissa Cavegn für die Architektur. 2018 schloss sie ihre Ausbildung – mit Auszeichnung für ihren Diplom­entwurf  – mit einem Bachelor ab. Seit April 2019 arbeitet Larissa Cavegn als Architektin und Projektleiterin bei Albertin Partner Architekten in Chur.


Larissa Cavegn