Abos!

STAHL ZU STAHL.


Von den ursprünglich 42 eingegebenen Projekten für die zweite Hinterrheinbrücke der RhB bei Reichenau sollten die meisten aus Beton sein. Doch die Brücke, die jetzt realisiert wird, die «Sora giuvna», wird aus Stahl gebaut – denn das passt zur ersten Hinterrheinbrücke,
welche im Anschluss saniert wird, und es löst die kniffligen Aufgaben, die an diese Brücke gestellt werden.


Text: Fridolin Jakober

Bilder: Alice Das Neves

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1895, als man die heute denkmalgeschützte Hinterrheinbrücke baute, waren Fachwerke aus Eisen hoch im Kurs. Der Rheinviadukt Eglisau der SBB (erbaut 1895 bis 1897) oder die Sitterbrücke der ehemaligen Bodensee-Toggenburg-Bahn (erbaut 1908 bis 1910) sind beredte Zeugen aus dieser Zeit. Doch weil mit der Elektrifizierung die Loks und die Züge schwerer wurden, setzte sich in der Folge der Beton durch. Bei manchen Brücken – etwa beim Grandfey-Viadukt zwischen Düdingen und Fribourg – wurden die alten Fachwerkträger einbetoniert, andere Brücken wurden einfach ersetzt, so dass viele der alten Eisen- und Stahlbrücken nach und nach verschwanden. Aber rund um das Schloss Reichenau, dort, wo die Verkehrswege aus der Surselva und vom Domleschg her zusammenkommen, hat sich – bis auf den heutigen Tag – ein einmaliges Ensemble von eisernen Fachwerkbrücken erhalten. Jene Strassenbrücke vom Bahnhof Reichenau zum Schloss, deren Sanierung gerade vollendet wurde, und die Hinterrheinbrücke der RhB, über die bis heute der gesamte Bahnverkehr Richtung Ilanz und Thusis geht. Deshalb gehören der Dorfkern von Tamins und das Schloss Reichenau zu den schützenswerten Ortsbildern der Schweiz von nationaler Bedeutung und die Kantonsstrasse Chur – Reichenau – Tamins/Thusis ist ein historisch bedeutender Verkehrsweg. Auch die erste Hinterrheinbrücke selbst gilt als Denkmal Schweizer Ingenieurskunst – ihre Pfeiler sind formschön gemauert, ihr Fachwerk ist filigran genietet, in klassischer dreifeldriger Form überspannt sie den Rhein.


Technik und Natur in HarmonieDie RhB-Brücken führen über die A13.

Neu und alt zusammen

Wie viele andere Bauten der RhB soll nun auch die erste Hinterrheinbrücke saniert werden und wie fast immer muss dies während des laufenden Betriebes geschehen, denn die RhB ist – im Gegensatz zu den SBB – eine einspurige Bahn. Gleichzeitig war aber der Bahnhof Reichenau schon lange ein Nadelöhr im Bahnbetrieb. Weil hier die Züge im Taktfahrplan von der Albula-Strecke und von Ilanz her zusammentreffen, hat schon die kleine Verspätung eines Zuges grosse Auswirkungen, was auch die Anschlusszüge der SBB in Chur betrifft. Deshalb beschloss man, zuerst eine zweite Hinterrheinbrücke zu bauen und nach deren Fertigstellung die historische erste Brücke 2019 zu sanieren. Die neue Brücke sollte südlich (flussaufwärts) zur bestehenden Brücke zu stehen kommen, denn das ist wasserbaulich am günstigsten und das Flussufer wird so am wenigsten tangiert. Zudem können die häufiger verkehrenden Züge Richtung Thusis und Albula die neue Brücke benützen, das Material der alten Brücke wird also – nach deren Sanierung – weniger ermüden. Damit aber die alte Brücke hinter der neuen sichtbar bleibt, sollten die Pfeiler der neuen Brücke nicht über die der alten hinausragen und auch ihre Oberkante durfte nicht höher zu liegen kommen als die der Fachwerkbrücke. Die kniffligste Anforderung an die neue Brücke stellte aber nicht die Überquerung des Rheins, sondern die Überführung der A13. Weil Lastwagen unter der neuen Eisenbahnbrücke verkehren müssen, hätte man entweder die A13 absenken müssen oder es musste eine sehr schlanke Brücke – eben eine Trogbrücke – realisiert werden. Das war denn auch mit ein Grund, weshalb man sich im Preisgericht schliesslich für die Stahltrogkonstruktion mit V-Stielen entschied.


Die neue Stahltrogbrücke wird südlich der ersten Brücke erbaut.

Sora giuvna

Natürlich soll sich die neue Brücke von der alten nicht abheben. Die Stahlteile werden also in heller Farbe im Ton der bestehenden Fachwerkbrücke lackiert und vom Material her passen die Brücken zueinander. Trotzdem ist die «junge Schwester» ein ganz anderes Kaliber als die bestehende Fachwerkbrücke neben ihr. Während das Fachwerk der älteren Schwester vor Ort vernietet werden musste, können heute bedeutend grössere Brückenteile vorgefertigt und mit Tiefladern angeliefert werden. Auch von der Konstruktion her stellt die Sora giuvna höchste Anforderungen. Denn auf den beiden neuen Hauptpfeilern, welche bereits vor Ort fundiert und betoniert wurden,  werden zwei V-Stiele mit je vier Fingern den halbmondförmig gebogenen Stahlkasten der neuen Brücke tragen – elegant, als würden sie diesen wie einen Teller servieren. Entworfen wurde diese Brücke von einem internationalen Team aus Architekten und Ingenieuren. Es sind dies Ian Firth aus London, Andreas Galmarini aus Zürich und Dissing + Weitling aus Kopenhagen. Sie lieferten einen gesamtheitlichen Entwurf, der die komplexe Fragestellung einer zweiten Brücke auf einleuchtende Weise beantwortet: «Wir sind überzeugt von der Einfachheit unseres Projekts. Es gibt nur noch zwei Brücken, die ältere und die jüngere Schwester. Die jüngere ist transparent, um respektvoll den Blick auf die elegante ältere Schwester freizuhalten. Sie bekennt sich durch Materialisierung und geometrische Bezüge zu ihrer Verwandtschaft und ist dank ihrer Formsprache und dem Abstand zur älteren eine starke eigene ‹Persönlichkeit›.» (Zitiert nach: Clementine Hegner-van Rooden, Brückenduett, TEC21 48/2015)

 

Bauarbeiten im Gang

Allerdings erfordert der Bau der Sora giuvna auch einige bauliche Veränderungen am Osthang über dem Bahnhof Reichenau-Tamins und eine Verbreiterung des Dammes auf der Südwestseite. Wer im letzten Jahr ab und zu auf der A13 verkehrte, bekam das auch mit. Das rückenende auf der Churer Seite kommt auf einen Auflagerkörper zu liegen, der in die bestehende Natursteinmauer eingelassen ist. Wegen der gewählten Linienführung C – sie führt die Brücke in einem Bogen gekrümmt über das Wasser – sind auch am östlichen Hang  Änderungen nötig. So wird dort die obere Stützmauer durch eine Steilböschung ersetzt. Dazu werden 31 000 Kubikmeter vom Hang abgetragen. Derzeit werden die Stahlbauteile der Brücke in den Werkstätten realisiert, was höchste Präzision und grosses Stahlbau-Knowhow erfordert. Dieses findet sich tatsächlich in der unmittelbaren Region. Die Stahlkästen werden von Jörimann Stahl, Bonaduz/Walenstadt, und Schneider Stahlbau, Jona, gefertigt, die V-Stiele kommen von Toscano Stahlbau, Cazis. In der neuen Montagehalle von Toscano Stahlbau bewegen zwei 32-t-Laufkräne die bis zu 40 Tonnen schweren Stahlfinger, die mächtigen Stahlplatten werden millimetergenau verschweisst. Die Brücke wird im Frühling 2018 in einer Feldwerkstatt zusammengesetzt – zu Elementen von bis zu 40 Metern Länge. Raupenkräne bringen sie dann Anfang April in ihre endgültige Position, wo sie untereinander verschweisst werden, und ab dem 4. November 2018 wird dann die neue Hinterrheinbrücke den gesamten Zugverkehr tragen, während die alte Brücke so instand gestellt wird, dass sie mindestens für weitere 50 Jahre von den Zügen in die Surselva benutzt werden kann. All dies wurde in enger Zusammenarbeit mit der Denkmalpflege und dem Bundesamt für Kultur geplant und realisiert. So führen die Veränderungen  nsgesamt zu einer Beruhigung im Landschaftsbild und wer dannzumal auf der A13 von Süden her auf die Brücken zufährt, wird eine Einheit aus Stahl sehen, die ältere und die jüngere Schwester, die zusammen mit der schon sanierten Strassenbrücke den Zusammenfluss der Rheine und das Schloss Reichenau einrahmen.


Bis zu 50 Tonnen schwere Stiele.Bei Toscano Stahlbau präzise geschweisst.Bereits angeliefert: ein V-Stiel.Die Finger werden vor Ort angeschweisst.

Technische Daten

Bauzeit: 2017 bis 2019
Länge Flussbrücke: 198,65 m
Länge Überführung A13: 51,6 m
Maximale Spannweite: 63 m
Mögliche Höchstgeschwindigkeit: 65 km/h
Gesamtprojektkosten: 32,15 Mio. (exkl. MwSt.)

 

Inbetriebnahme

Neue Brücke «Sora giuvna» November 2018, Instandsetzung alte Brücke November 2019

 

Hauptkubaturen

Erdarbeiten/Abtrag: 45 000 m3
Ortbeton: 2000 m3
Stahl: 1200 t