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NADELÖHR IM DORF JENINS.

Als die Dozierenden Christian Wagner und Sandra Bühler-Krebs mit der Bevölkerung das kommunale räumliche Leitbild entwickelten, um innere Baulandreserven zu mobilisieren, zeigte sich im Unterdorf von Jenins eines der «Sorgenkinder», wie sie wohl jedes Dorf in Graubünden hat. Unter dem Titel «Jenins – Bauen im engen Dorfkern» übten ihre Studentinnen und Studenten das Entwerfen im grösseren Massstab. Hier die Resultate.


Text: Fridolin Jakober & Sandra Bühler-Krebs

Bilder: Christian Wagner

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Das Dorf Jenins ist – wie Malans und Maienfeld – ein gerne besuchter Ort Graubündens, ja es ist geradezu das typische Weinbaudorf schlechthin. Malerisch gelegen inmitten der Weinberge und am Fuss der Burgruine Neu-Aspermont gehört sein Dorfbild seit 1983 zum Inventar der schützenswerten Ortsbilder der Schweiz (ISOS), da hier die Beziehung Dorfumgebung noch weitgehend intakt ist. Weiter heisst es dort: «Die sehr hohen räumlichen Qualitäten sind die Folge der klaren Struktur des Ortes, der von einem dichten Zentrum aus mit fünf Siedlungsarmen nach allen Richtungen ausgreift. Räumlich bemerkenswert sind auch die beiden Gassenzüge im Oberdorf und Unterdorf mit ihrer zum Teil fast städtisch anmutenden Bebauung.» Trotzdem ist das Unterdorf, respektive die Zeilenbebauung an der engen Gasse, die vom Torkel zum ehemaligen Gasthaus Traube führt, heute ein Nadelöhr der Gemeinde – denn diese enge Gasse ist die Kantonsstrasse für den Autoverkehr und gleichzeitig auch noch der Wanderweg, auf dem Fussgänger und Wanderer das Dorf durchqueren.

Wer von Chur herkommend am malerischen Brunnen und am Torkel vorbei ist, hat meist keine Augen für die Gebäude rechts der Strasse. Denn die enge und vielbefahrene Gasse, wo man nicht kreuzen kann, verlangt die volle Aufmerksamkeit aller Verkehrsteilnehmer. Schaut man aber hin – und das war die Aufgabe im 5. Semester des Bachelorstudiums Architektur an der Fachhochschule Graubünden –, so entdeckt man anschliessend an den Torkel zuerst eine verlassene Bäckerei mit Café. Ein Erker mit historisierender Bemalung thront über einem Bogenfenster, das einst zu einem Restaurant/Kaffee-Stube gehörte, inzwischen aber nur noch geschlossene Lamellenstoren zeigt. Es folgen zwei Ställe, in denen im Erdgeschoss einst Vieh gehalten wurde, für das man im oberen Teil Heu lagerte, sowie ein weiteres Wohnhaus, das bereits am Platz vor dem ehemaligen Restaurant Traube steht.

Unter dem Titel «Jenins – Bauen im engen Dorfkern» sollten die Studentinnen und Studenten von Sandra Bühler-Krebs und Christian Wagner das Entwerfen in einem grösseren Massstab üben. Dazu braucht es den Entwurf, die räumliche Idee, Vision und Haltung und es bedarf des Planers, der die Bedürfnisse und Wünsche der Gesellschaft im Sinne des Allgemeinwohls abzuwägen versucht. «Für einen eng bebauten Strassenzug im historischen Dorfkern von Jenins wird mit einem ortsbaulichen Entwurf ein neuer Ent­wicklungs­impuls gegeben», heisst es im Semesterprogramm. Zudem sollen die lokale Baukultur weiterentwickelt und die historischen Gestaltungselemente in eine zeitgemässe Architektur übersetzt werden. So weit die Aufgabe.


Ist-Situation in Jenins: Mit ihrem ortsbaulichen Entwurf sollen die Studierenden hier einen neuen Entwicklungsimpuls setzen.

Augen auf die Strasse, Jane Jacobs

Wenn heute Investoren ein Areal entwickeln sollen, so stellt sich die Frage nach der Attraktivität des Standorts und nach dessen Bewohnbarkeit. Wer zieht schon in eine Wohnung an einer engen Strasse, wo das Auto nicht abgestellt werden kann, wo die Kinder direkt im Strassenverkehr stehen, wenn sie aus der Haustür treten, und wo man sich weder links noch rechts ausdehnen kann? Genau das aber ist die Situation der vier Gebäude, die jetzt dort die Häuserzeile ausmachen. Da die Häuser bereits in einer Reihe stehen, sind sie alle auch gleichermassen von der beengten Lage betroffen. Wollte man jedes der vier Gebäude einzeln ersetzen, so wäre vieles schlicht nicht realisierbar. Kein Parkplatz, kein schöner Aussenraum, keine attraktive Wohnlage. Wesentlich besser sieht es aus, wenn die Eigentümer hier zusammenspannen und sozusagen das gesamte Quartier gemeinsam planen. Doch dafür braucht es – schon zu Beginn – ein Umdenken.

Umdenken, das beginnt bei der Ausrichtung der Fassaden. Denn die Lage an der vielbefahrenen «Gassa» könnte dazu verführen, sich von der Strasse abzuwenden und das Leben ganz nach hinten hinaus Richtung Bongert zu organisieren. Damit würde der Strassenzug aber lebloser und abweisender werden. Was das Dorfbild negativ beeinflusst. Denn die Gasse im Unterdorf ist nicht nur die Hauptverkehrsader für den MIV, hier führt auch der Wanderweg durch und auch die Velofahrenden kommen hier vorbei.

Die Lage an der Gasse wäre eigentlich eine Chance, ein Pluspunkt – denn hier fahren und gehen Leute durch, hier könnte man Kontakte knüpfen, hier könnte man – etwa in einem Atelier – Arbeiten zeigen und gegen aussen treten. Immerhin sind auf der gegenüberliegenden Strassenseite Hauseingänge, die man über drei Treppenstufen erreicht. Hortensien, Holzfiguren und Oleanderbüsche geben der Strasse etwas Farbe, durch eine Einfahrt sieht man auf einen begrünten Hof – und schliesslich ist es ja auch die Südseite der zukünftigen Gebäude.

Eine der Bedingungen also war es, die Augen der Häuser auch auf die Strasse zu richten. Der Gedanke selbst stammt von Jane Jacobs und wurde 1961 in New York entwickelt, zu einer Zeit, als man ganze Stadtteile zu «Slums» erklärte, planierte und anschliessend für den Autoverkehr optimierte Strukturen errichtete. Mit dem Resultat, dass die Kriminalität anstieg. Doch Sicherheit entsteht nach Jacobs, sobald Strasse, Platz und Trottoir allen gleichberechtigt zur Verfügung stehen. Der Übergang von öffentlich zu privat sollte eben nicht durch die Abwendung von der Strasse mit einer Mauer entstehen, sondern fliessend gestaltet werden.

 

Tiefgarage I und II

Der Verkehr bleibt und ist in Jenins eine ebenso grosse Herausforderung wie die Parkierung. Der Gassenzug im Unterdorf wurde vor über 100 Jahren bebaut, zu einer Zeit, als allenfalls Fussgänger und Pferdefuhrwerke unterwegs waren, meist aber Bauern mit ihrem Vieh oder mit Heuwagen. Heute dient die Strasse allen in Jenins als Zufahrt zu ihren Häusern, auch Touristen kommen hier vorbei, wenn sie in den beliebten Restaurants von Jenins essen gehen. Verbreitern lässt sich die Strasse nicht, trotzdem will man ja sein Auto direkt bei der Wohnung parken. Wer also dieses Areal entwickelt, muss Parkierungsmöglichkeiten schaffen. Hier geht dies einzig mit einer Tiefgarage – entweder mit Zufahrt direkt zu Beginn der Gasse, also dort, wo jetzt das Bogenfenster der Bäckerei zu sehen ist, oder vom Platz her über einen Autolift. Einige der Studierenden schoben die Garage in den Hang hinein und schufen davor Ateliers oder Werkräume und darüber Häuser, die sich zur Strasse orientieren. Teilweise entstanden auch Gebäudenischen oder Durchgänge in den Bongert, in denen man stehen bleiben und dem Verkehr ausweichen kann.


Lösungstypen

Unter den präsentierten Semesterarbeiten lassen sich – grob gesprochen – vier Typen von Lösungen unterscheiden. Eine Reihe von Atelierhäusern, in die man – von der Strasse her – reinschauen kann, einen Hof mit Lauben, das Zusammenstellen der Häuser zu einem Gehöft und die Lösung, anschliessend an den Torkel einen Treppenzugang zu schaffen, zu einem Haus mit Laden und offener Südlage, vor dem ein grosser Tisch steht.


Studentin Ladina Schmidt: Künstler-Ateliers

Grosszügige Schaufenster öffnen den Blick von der engen Gasse in Werk- und Arbeitsräume. Schaut man durch das Atelier hindurch, erahnt man den Garten auf der Nordseite des Hauses, der um ein halbes Geschoss erhöht liegt. Mit dem sogenannten Spittlevel wird die Hanglage elegant thematisiert.


Ladina Schmidt: Künstler-AteliersLadina Schmidt: Künstler-Ateliers

Studentin Jana Cavelti: Innenhof

Der Torkel wird als Veranstaltungsraum aktiviert und entlang der Gasse reihen sich kleine Werk- und Ausstellungsräume an, die beispielsweise für Wein-Degustationen oder eine Töpferwerkstatt genutzt werden können. Es entsteht eine dichte Wohn­bebauung. Herzstück ist ein Innenhof, der durch Lauben, genutzt als private Balkone, belebt wird.


Jana Cavelti: InnenhofJana Cavelti: Innenhof

Student Gian Fadri Lansel: Gehöft

Auch hier stehen die neuen Gebäude an der Gasse. Sie sind in kleinere Einheiten zusammengefasst und reihen sich wie ein Gehöft um den mittigen Wirtschaftsraum. Unterschiedlich gestaltete Fassaden aus Putz und Stein lassen die Bebauung lebendig wirken. Zwischen den einzelnen Gebäuden zeigen sich kleine Durchgänge wie eine Treppe von der Gasse in den Hof.


Gian Fadri Lansel: GehöftGian Fadri Lansel: Gehöft

Student Daniel Gander: Grande Tavola

Die Reihung der Gebäude vom Platz des Gasthaus Traube bis zum Torkel zeigt eine Ausnahme. Direkt neben dem Torkel gelangt man über eine Nische mit Brunnen und eine Treppe hinaus auf einen Platz, der mit einem grossen gemeinsam nutzbaren Tisch, Sonne und Ausblick zum Treffpunkt des Quartiers werden kann. Neu können Fussgänger diese Abkürzung durch das Quartier hindurch nutzen. 


Daniel Gander: Grande TavolaDaniel Gander: Grande Tavola