Abos!

DIE FEDERFREIHEIT DES ARCHITEKTEN.

Für einen Architekten ist es ein kaum zu ermessendes Geschenk und eine besondere Freude, wenn der Bauherr ihm «Federfreiheit» gibt. Für den jungen Architekten Lorenzo Lazzarini, von OG 27 ist es mehr als das – handelt es sich doch bei den beiden Bauherren um langjährige Freunde und bei Marco Spinas um seinen Geschäftspartner.


Text: Fridolin Jakober

Bilder: Ingo Rasp

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Die Zeiten, wo Architekten auf der grünen Wiese ein Haus ganz nach ihrem Stilgeschmack hinstellen konnten, sind seit langem vorbei. Heute gilt es in fast allen Fällen, sich in eine bereits bestehende Umgebung einzuordnen, sich an Nachbarbauten anzupassen, sich in einem Baufenster zu bewegen – ganz zu schweigen von der wachsenden Flut an Bauvorschriften. Insbesondere dort, wo eine Verdichtung nach innen angestrebt wird, geht Bauen nie ganz kampflos über die Bühne. Deshalb braucht es ästhetisch überzeugende Lösungen, welche die umliegenden Gebäude befriedigen.

So war das auch am Heckenweg 8 in Chur. Wo einst ein Einfamilienhaus mit Garten gestanden hatte, sollte ein Doppelhaus entstehen. Allerdings hatte man beim Kauf die Rechnung ohne den gesetzlichen Waldabstand von zehn Metern gemacht. So musste das Team von OG 27 das Baufeld nachträglich hangseitig verschieben, anpassen und eine einvernehmliche Lösung mit den Nachbarn finden. Sonst hätte am Schluss einfach die Fläche fürs Parkieren gefehlt. Eine Herausforderung bestand darin, den Ansprüchen der unmittelbaren Nachbarn gerecht zu werden. So wünschte sich die Nachbarschaft rechts eine gut befestigte Betonmauer als Abtrennung, der Garten des Doppelhauses wurde talwärts dann auch nicht abgeschrägt, sondern es entstand eine 40 Meter lange Wand aus Cortenstahl – zur Freude des Nachbarn unterhalb.


Bildnerische Qualität: das Zweifamilienhaus vor dem Calanda-Massiv.Treppenwand als Wirbelsäule.

Die Konzeption

Getreu dem ersten Grundpfeiler in der Philosophie des innovativen Architektenteams hatte die Konzeption des Gebäudes sich den Lebensbedürfnissen der Eigentümer anzupassen. Allerdings hätten die Lebenskonzepte der beiden neuen Eigentümer unterschiedlicher kaum sein können. Während Jakob Gross, der zukünftige Bewohner der rechten Haushälfte, Hundehalter ist und sich entsprechend für seinen Hund ein Wohnzimmer auf Gartenebene wünschte, wollte Marco Spinas beim Eintritt in die Wohnung auf der Parkebene zum Wohnbereich gelangen. Für ihn waren der seitliche Bezug des Hauses wichtig wie auch die Fernsicht über die Stadt Chur. Für den Architekten war klar: Jeder sollte jene Qualitäten bekommen, die er sich wünschte. Gleichzeitig sollte das Haus von aussen lesbar bleiben. Zudem hatte Lazzarini die Grundsätze der Bauhausarchitekten im Hinterkopf – schliesslich studiert er derzeit noch an der Fachhochschule in Chur. Die bei seinen architektur­erfahrenen Dozenten, Norbert Mathis und Robert Albertin, erlernten Kenntnisse der Grundlagen des Entwurfs konnte er ebenfalls in die Planung miteinfliessen lassen.


Die Innovation

So lud Lazzarini Gross und Spinas in sein Haus aus den 1970er Jahren ein und liess sie im Wohnzimmer auf und ab gehen, um die Dimensionen des Raums sinnlich zu erfahren. Beide entschieden sich für einen zehn Meter langen Wohnraum und nun galt es, Reglemente und Bedürfnisse mit der Ästhetik in Einklang zu bringen. Beide wollten es nicht zu kompliziert, wollten einen Fitnessraum im Kellergeschoss, der von beiden genutzt werden kann, und natürlich sollte die Baugrundfläche des Attikageschosses, wie es gemäss Churer Bauordnung statthaft ist, auch genutzt werden – wenn auch nicht mit einem Giebeldach. So entwickelte das Team des Baubureaus OG 27 AG das Haus ausgehend von den Erschliessungszonen mit den Treppensetzungen als Zentrum des Hauses. Die hangseitig gelegene, durchgehende Treppenwand ist die Wirbelsäule des Hauses. Sie ist in Sichtbeton ausgeführt und bleibt, da sie unverputzt ist, im Haus überall sichtbar. Das Haus wird von unten nach oben kleiner. Doch geschieht die Verschachtelung nicht von oben nach unten, sondern indem die Räume nach allen Seiten versprengt werden. Nicht um künstlich Wohnraum zu schaffen, vielmehr sollte Wohnraum etwas sein, was aus guten Räumen wächst. Tatsächlich entstanden so vier ästhetisch überzeugende Fassaden. Insbesondere die Nordfassade passt sich durch den Versatz selbstverständlich in die Landschaft ein. Das Haus bleibt speziell auf die Natur bezogen – schliesslich ist es in unmittelbarer Nähe zum Waldrand. Die bündigen Fenster sind nicht innen angeschlagen – sie sollen vielmehr wie in einem Bilderrahmen die Landschaft zeigen, die schönen Ausblicke Richtung Calanda und Stadt sowie Richtung Rote Platte fassen. Eines dieser Highlights liegt im Attikageschoss der Wohnung Spinas. Vom Schlafzimmer mit Bad en suite geht der Blick direkt in den Wald.


Zu ebener Erde und im ersten Stock: die Wohnbereiche im Einklang mit den individuellen Bedürfnissen. Zu ebener Erde und im ersten Stock: die Wohnbereiche im Einklang mit den individuellen Bedürfnissen. Die schönen Ausblicke nutzen: von der Badewanne in den Wald......von der Terrasse zum Calanda.Verputzt und unverputzt: Mauer kontrastiert mit Holz.Verputzt und unverputzt: Mauer kontrastiert mit Holz.

Die Präzision

Diese bildnerische Qualität des Hauses entspringt nicht einfach der federfreien Phantasie des Architekten allein. Er musste sie auch nicht in ein bereits vorgefertigtes Projekt einbringen, das genaue Ausnützungen und optimierte Wohnflächen vorschrieb. Vielmehr führten in diesem Fall die verschiedenen Ansichten der beiden Bauherren in der Auseinandersetzung mit dem Architekten und dem Projekt zur guten Lösung. Die umgekehrte Wohnsituation etwa – also dass Gross zu ebener Erde wohnt und Spinas im ersten Stock – erlaubte erst die kunstreiche Verschachtelung und die Hierarchien in der Höhe. In diesem Kontext wurden die Treppen zu Kunstwerken und so entstand auch der sechs Meter hohe Weinkeller. Auch er ergab sich aus dem Ganzen und ist doch in seiner Art einmalig: Eine nackte Typ-2-Schalung, oben fällt durch die schräge und dicke Laibung indirekt das Tageslicht in den Keller, wo Wein und Fleisch in idealer Atmosphäre lagern.

Über dem Kellergeschoss im Untergeschoss liegen bei der Wohnung Spinas die Zimmer ebenerdig, schön kühl, ruhig und geschützt. Gleich daneben – im Wohnzimmer der Wohnung Gross – geht der Blick Richtung Calanda auf die grosse, ums Eck gehende Terrasse, welche vom Erdgeschoss oben auch über eine Aussentreppe erreicht werden kann. Die Wohnung Spinas wiederum hat ihre Terrassen im Erdgeschoss wald- und stadtseitig. Im Attikageschoss dann ist die Terrasse umgehend und bietet beiden Wohnungen die Möglichkeit, sich zu sonnen und die Aussicht zu geniessen. Die geforderte Präzision zeigt sich zuerst einmal in der ­sauberen Verarbeitung, in der klugen Wahl der Materialien. Die feine Qualität der Arbeit kommt bei den Befestigungen und bei den inneren Abschlüssen zum Ausdruck. Sie liegt aber – in einer tieferen Dimension – auch in der Einstellung zur Arbeit der Architekten selbst. Trotz minimaler und klassischer Formen ist das Haus weit mehr als ein «Würfel in der Landschaft». Es geht auf den Ort und seine Bewohner ein, weil hier interessierte und fähige Leute am Werk waren.

Lazzarini baut mit dem OG-27-Team schöne Bauten, gerade auch dann, wenn sie hohe Komplexität verlangen. Er hat sein eigenes Haus mit Liebe und Freude umgebaut und baute jetzt – mit denselben Emotionen – für seinen Geschäftspartner, mit dem er schon jahrelang im selben Büro arbeitet. Die Baueingabe entstand dabei nach Feier­abend – wenn die anderen Projekte bereits bearbeitet waren. Die Pläne zeigen nicht nur eine Planung, sondern sind das Resultat von Auseinandersetzungen, von genauen Analysen der Bedürfnisse, von Ideen, die sich kristallisierten, hinterfragt wurden, sich wieder auflösten, neue Schwerpunkte fanden und schliesslich zu einem Haus wurden, das – bei aller Individualität – auch durch Zeitlosigkeit und Ideenreichtum überzeugt.


Im Lichtspiel des Herbstabends: über den Dächern von Chur.