Abos!

DAS GLÜCK BEHÜTETEN WOHNENS.


Rudolf Olgiati hat die Elemente der Bündner Architektur nicht nur studiert, sondern er hat sie zur einmaligen Sprache zu­sammengefügt. Damit hat er – in einem spe­ziellen Sinn – etwas Unsterbliches geschaffen, das es heute zu schützen gilt, so wie man die einmaligen Landschaften Graubündens schützt.


Text: Fridolin Jakober

Bilder: Mathias Kunfermann; Porträtbild aus der Publikation Rudolf Olgiati Architekt von Thomas Boga/Birkhäuser Verlag

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«Der Fundus meiner Arbeit ist die optische Sachlichkeit der Griechen.» Mit diesem Ausspruch umreisst Architekt Rudolf Olgiati (1910 – 1995) selbst, wie er dazu gekommen ist, eine eigene Architektursprache zu entwickeln. Manche Interpreten – etwa Ulrike Fischer in «Regionalistische Strategie in der Architektur Graubündens: von 1900 bis in die Gegenwart» – sehen Phasen, in denen sich die Architektur Graubündens stärker mit der lokalen Tradition verband, etwa in der «Heimatschutzarchitektur» von Nicolaus Hartmann, Otto Schäfer und Martin Risch vor dem 1. Weltkrieg, in den Bauwerken nach dem 2. Weltkrieg, wo sie Olgiati in einer Reihe mit Iachen Könz und Bruno Giacometti sehen, und schliesslich die aktuelle Phase mit Peter Zumthor und Gion A. Caminada. Tatsächlich haben sich alle diese Architekten mit den Traditionen des Bauens in Graubünden beschäftigt und knüpfen daran auf ihre individuelle Weise an.


Der Mensch im Zentrum

Womit also hebt sich Rudolf Olgiati von ihnen ab? Was macht ihn als Architekten einzigartig? Zuerst einmal ist es sein anthropo­logischer Zugang. Olgiati stellt den Menschen ins Zentrum und untersucht die sinnlichen Wirkungen, welche die Elemente der Architektur auf den Betrachter und den Bewohner haben. Die schützende Mauerschale, welche fest im Boden wurzelt und sich gegen den Himmel öffnet, die tiefliegende Feuerstelle als Mittelpunkt des Wohnbereichs, von dem die Raumbeziehungen ausstrahlen. Die annähernd quadratischen Öffnungen der Fenster, welche den Schalencharakter der Fassade respektieren. Die Wiederverwendung von handwerklich wertvollen Teilen aus dem Abbruchobjekt, welche ein lebendiges Verhältnis zur Vergangenheit schaffen. Aus diesen und weiteren Elementen seiner Architektursprache entstanden Häuser und Wohnungen, die selbst­verständlich wirken und doch neu sind.

Thomas Boga, der 1977 die Monographie «Die Architektur von Rudolf Olgiati» verfasste, die wir – neben seinen Bauten – als wichtige Quelle für den vorliegenden Artikel verwendeten, beschreibt diese sinnliche Wirkung in seinem Vorwort sehr klar: «Im Februar 1962 verbrachte ich meine Ferientage zum erstenmal im Apartementhaus ‹Las Caglias›. Das Haus war erst seit anderthalb Jahren eröffnet. Ich versuchte damals nicht, die gewonnenen Eindrücke zu analysieren. Vertrautheit und Geborgenheit wirkten weit nachhaltiger als Gestalt und Formensprache. ‹Las Caglias› schien so selbstverständlich da zu stehen wie der Hügel, auf dem es gebaut ist.»


Das Haus wird bei Olgiati in die Landschaft hineingebaut.

Das Wichtige betonen

Weiter ist es die optische Sachlichkeit der Griechen, an der sich Rudolf Olgiati orientiert und mit der er sich abhebt. Eindeutig, einheitlich, eingepasst und entspannt sollen seine Häuser wirken. Sie folgen nicht irgendeiner Stilrichtung. Individualisierung besteht bei Olgiati nicht im Hervorheben von Unwichtigem oder in der beliebigen Abgrenzung vom Umgebenden. Sie entsteht vielmehr dadurch, dass das Gebäude an den Ort angepasst wird, an dem es steht, und indem er Gruppen von gleichen Bauteilen durch leichte Veränderungen an ihren Gliedern individualisiert. Er selber verteidigt die Einmaligkeit der Landschaft und ihrer Bebauung gegen die Regulierung mit scharfen Worten: «Die schönen Wohn- und Aussichtslagen werden bei Einzonungen durch die heute übliche Planung mit Sicherheit zerstört. Das 1,5-stöckige Eigenheim wird rundum – mit gebührendem Abstand – von ebenfalls 1,5-stöckigen Häusern umstellt. (. . . ) Eine solche Bebauungsweise verschafft Gleichheit. Jeder hat es in seiner Parzelle gleich schlecht.» Und – schon fast visionär – beschreibt er, was sich in den schönsten Orten Graubündens tatsächlich in der Folge ereignete: «Die Planung indessen fördert die Streubauweise, durch die chaotische Ansammlungen scheusslicher Idealvorstellungen vom Mini-Feudalsitz bis zur spanischen Villa begünstigt werden.»


Ort der Begrenzung Innen/Aussen – die schützende Mauerschale

Dem Haus seinen Raum lassen

Wer sich heute auf eine kleine Spritztour durch «Olgiati»-Land begibt und etwa über Bonaduz und Versam nach Ilanz und von dort über Sagogn nach Laax und Flims fährt, findet manche seiner Kunstwerke inzwischen eingeschnürt von postmodernen «Scheusslichkeiten» in Pink und Grün, von Fertighäusern mit maschinell gefertigten Dachziegeln und von spanischen Villen, welche teilweise die Frechheit besitzen, die Elemente des Wohnens, die er für Graubünden neu definierte, ohne architektonisches Können zu zitieren.

 

Dabei baute Olgiati selber die Häuser in die Landschaft hinein, richtete ihre Formen auf den Horizont aus und achtete auf eine intakte Schale, die den Bewohner vor der wilden Natur beschützt. Noch immer finden sich – etwa in den Kernzonen von Versam, Castrisch oder Sagogn – jene Häuser aus früheren Jahrhunderten, welche die Vorlagen für den Torbogen und die durch kleine Fenster unregelmässig strukturierten Fassaden lieferten. Einige davon werden durch sorgfältiges An- und Weiterbauen und durch rückführende Renovation zu einem Stück Heimat, andere harren weiter aus, verlassen von ihren Bewohnern, die sich lieber etwas mit vier Zimmern, Küche, Bad und Lift suchten, und werden dem Zerfall preisgegeben.


Die Gärtnerei und das Mehrfamilienhaus Urech in Chur sind im Quartier unterhalb des Bahnhofs Stadtlandschaft geworden.Die Gärtnerei und das Mehrfamilienhaus Urech in Chur sind im Quartier unterhalb des Bahnhofs Stadtlandschaft geworden.

Zum Glück – muss man sagen – werden viele Dorfkerne heute weiträumig umfahren und dort, wo die Strassen nach wie vor mitten durchs Dorf führen, darf die gewachsene Bebauung das Tempo aus dem Verkehr ziehen. Rudolf Olgiati selber setzte sich für Transportwege ausserhalb der Wohnzone ein und für eine Erschliessung durch Stichstrassen. «Transportwege, die in Serpentinen durch ein Quartier hindurch gar zu einer Alp oder einem Maiensäss führen, zerstören die Siedlung.» 2014 hätte – Ironie des Schicksals – die Gemeinde das malerische Quartier um die Via las Caglias in Flims fast zerstört, indem sie Olgiatis Via las Caglias – einen kurvigen Weg, der mitten durchs Quartier führt – zu einer durchgängig 4,2 Meter breiten Strasse mit Rand­abschlüssen ausbauen wollte. Inzwischen ist diese Gefahr vorerst gebannt und «sein» Quartier wird als baukünstlerisches Gesamtkunstwerk gefeiert.

 

Noch schöner wäre es allerdings, wenn die Prinzipien und Formen, die Rudolf Olgiati für das Bauen in Graubünden entwickelte, nicht nur geschützt würden, sondern möglichst oft und weiträumig zur Anwendung kämen. Auch und gerade dort, wo heute ganze Quartiere mit ökologisch optimierten Mehrfamilienhäusern ohne umgebenden Raum aus dem Boden gestampft werden, um die Ausnützungsziffern mit der Rendite in Einklang zu bringen. Und natürlich dadurch, dass die gewachsenen Strukturen der Dörfer nicht nur respektiert, sondern auch effektiv von Menschen bewohnt werden. Sein Werk jedenfalls ist und bleibt der Fundus, aus dem sich eine der Region verpflichtete Architektur Graubündens für ihre Arbeit bedienen kann.


Das Apartementhaus «Las Caglias» – gebaut mit der optischen Schlichtheit der Griechen.

Rudolf Olgiati (geboren 7. September 1910 in Chur; gestorben 25. September 1995 in Flims) war ein Vertreter der Neuen Sachlichkeit.

Nach einem Studium der Kunstgeschichte an der ETH Zürich und einem Aufenthalt in Rom war er zuerst in Zürich, ab 1944 in Flims als Architekt tätig. Als einer der Ersten entdeckte er in den 1950er-Jahren die Bedeutung historischer Gestaltungsprinzipien für die Architektur der Moderne, seine Formensprache entwickelte er im Spannungsfeld der lokalen Bündner Bautradition, der griechischen Antike, aber auch zeitgenössischer Architekten wie Le Corbusier. Bei ihm vereinigt sich Architektur mit lokaler Tradition und mit dem Ort als solchem, zu dem seine Werke eine Beziehung schaffen. Ein grosser Teil seiner Bauten – vorwiegend Einfamilienhäuser – finden sich in Flims sowie von Ilanz bis Chur, seine volkskundliche Sammlung wird im Olgiati-Museum in Flims Waldhaus in einem dreiflügligen Anbau an den «Pavillon» des Hotels Waldhaus sowie im «Gelben Haus» von Flims ausgestellt.


Rudolf Olgiati